
Allzu oft wirkte Europa zuletzt getrieben: von der Aggression Russlands, dem Wachstum Chinas und von einem US-Präsidenten, der die transatlantische Partnerschaft geringschätzt. Warum das eine Chance für eine neue Rolle Europas in der Welt sein kann.
Spätestens mit der zweiten Amtszeit Donald Trumps ist klar geworden: Europa kann sich nicht mehr auf die USA verlassen – weder als Partner noch als Sicherheitsgaranten. Erst kürzlich betonte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas: Ein starkes und geeintes Europa ist der Schlüssel zu dauerhafter Stabilität.
Neben einer angestrebten neuen militärischen Stärke zeigen sich auch die Wirtschaftskraft und das Beharren auf Rechtsstaatlichkeit als die zentralen Pfeiler der neuen Rolle Europas in der Welt.
Die EU ist noch keine militärische Supermacht – doch sie ist eine wirtschaftliche Großmacht mit beachtlichem Einfluss.
Mit 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern stellt der europäische Binnenmarkt einen der größten weltweit dar. Durch den sogenannten „Brüssel-Effekt“ kann Europa über wirtschaftliche Macht hinaus Einfluss auf globale Standards nehmen. Unternehmen weltweit passen sich an europäische Normen an, um Zugang zum europäischen Markt zu erhalten. So trägt die EU indirekt zur Regulierung globaler Märkte bei – eine stille, aber wirkungsvolle Form von Macht.
Doch diese Stärke ist bedroht. Weltweit nehmen protektionistische Tendenzen zu, Zölle und Handelsschranken werden neu errichtet. Europa, das stark auf den Export angewiesen ist, leidet unter dieser Entwicklung – insbesondere im Verhältnis zu den USA. Dennoch: Die EU ist kein wehrloses Opfer. Mehr innere Handelsintegration sowie neue Freihandelsabkommen mit Partnern in Asien und Südamerika – wie mit den Mercosur-Staaten, Indien, Indonesien oder Vietnam – könnten die Abhängigkeit von Großmächten reduzieren.
Aber auch im Inneren braucht es Reformen, sagt die EU-Rechtsexpertin Thu Nguyen. Der Binnenmarkt, einst ein Herzstück des europäischen Projekts, ist durch Bürokratie und unterschiedliche nationale Regelungen fragmentiert. Eine Vereinheitlichung würde nicht nur Unternehmen entlasten – etwa durch gemeinsame Standards oder englischsprachige Dokumente im Binnenhandel – sondern Europas wirtschaftliche Schlagkraft erhöhen.
Vergangene Krisen von der Eurokrise bis zur Pandemie haben gezeigt: Die EU wächst mit ihren Herausforderungen. Jetzt ist es an der Zeit, wirtschaftliche Stärke mit dem europäischen Wertekompass zu verbinden und so als verlässliche, regelbasierte Macht Stabilität in einer instabilen Welt zu bieten. Europa könnte mehr denn je zum Anker der globalen Ordnung werden.
Europa bleibt weltweit für Menschen und Unternehmen ein attraktiver Ort, glaubt die Europarechts-Expertin Thu Nguyen: „Ich glaube, dass die EU eine Vorbildrolle in der Welt entwickeln kann, auch als ein Modell der konsensualen Demokratie.“ Zudem könne sie zu einem Modell werden, wo nicht nur Stärke und Macht entscheiden, sondern wo man mit Kompromissen arbeite.
In einer Zeit wachsender geopolitischer Unsicherheiten positioniere sich die Europäische Union zunehmend als Wertegemeinschaft – mit der Rechtsstaatlichkeit im Zentrum ihres globalen Selbstverständnisses. Während autoritäre Regime weltweit erstarken, bleibe die EU einer der letzten großen Räume, in dem demokratische Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz aktiv gelebt und verteidigt werden.
Doch die Glaubwürdigkeit Europas als weltweiter Verfechter demokratischer Werte hängt entscheidend davon ab, dass sie im Inneren konsistent verteidigt werden.
Der Umgang mit Mitgliedstaaten wie Ungarn, die diese Prinzipien unterlaufen, ist dabei zum Lackmustest geworden. Zwar verfügt die EU mit dem Rechtsstaatsmechanismus über Instrumente, um Fördergelder bei Regelverstößen zurückzuhalten, doch Maßnahmen wie der Artikel 7, ein Verfahren zur Sanktionierung von Mitgliedstaaten bei schwerwiegender Verletzung der EU-Grundwerte, scheitern bislang an politischer Rücksichtnahme und dem Einstimmigkeitsprinzip.
Dabei gehe es um mehr als ein einzelnes Land, meint Nguyen: Es gehe darum, klare Grenzen zu ziehen und andere Staaten davor zu warnen, ähnliche Wege zu gehen. Europas Fähigkeit, ein globales Vorbild zu sein, hänge auch davon ab, ob es intern den Mut zur Selbstbehauptung hat.
Deutschland kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Als größte Volkswirtschaft und politisches Schwergewicht innerhalb der EU wird erwartet, dass es die Rechtsstaatlichkeit nicht nur verteidigt, sondern auch aktiv vorantreibt. Trotz eines holprigen Starts der neuen Bundesregierung sind die Erwartungen an Berlin hoch.
Verglichen mit den USA und Russland ist Europa keine militärische Großmacht. Die EU hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten stets auf den Schutz der USA vor Russland verlassen. Das sei absurd, sagte der polnische Regierungschef Donald Tusk zuletzt in einer Rede. 500 Millionen Europäer würden 300 Millionen US-Amerikaner anflehen, sie vor 140 Millionen Russen zu schützen, die seit drei Jahren nicht imstande sind, 40 Millionen Ukrainer zu besiegen, sagt Tusk.
Um der neuen verteidigungspolitischen Situation zu begegnen, plant die EU eine umfassende Aufrüstung bis 2030 mit einem Gesamtvolumen von 800 Milliarden Euro. Diese Initiative umfasst unter anderem EU-Kredite in Höhe von 150 Milliarden Euro und die Ausnahme von Verteidigungsausgaben von den EU-Schuldenregeln.
Das Potenzial für militärische Stärke ist da, doch die Hürden sind ebenso groß: Um eine echte militärische Großmacht zu werden, müsste die EU nicht nur finanzielle Mittel mobilisieren, sondern auch politische Einigkeit über die gemeinsame Ausrichtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erzielen, industrielle Kapazitäten ausbauen und strukturelle Reformen umsetzen. So erklärte es auch bereits 2024 Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Grundsatzrede an der Pariser Universität Sorbonne. Nur so könne die EU ihre Verteidigungsfähigkeit unabhängig von den USA stärken und eine größere Rolle in der globalen Sicherheitsarchitektur übernehmen.
Marius Gerads