Was heute Instagram ist, waren damals Sammelbilder in Zigarettenschachteln. So erfuhr ich von der Balletttänzerin Cléo de Mérode. Viele Jahre später traf ich sie für ein TV-Porträt. Und fragte sie nach ihrer Affäre mit dem belgischen König aus.
Es war meine große Zeit des Bildpostkarten-Sammelns, bevor ich zu Briefmarken überging. Diese illustrierten Korrespondenzkarten waren sehr gefragt, dazu die Bildchen, die vielen Zigarettenpackungen beilagen. Die Abbildungen zeigten meist berühmte Schauspielerinnen und Tänzerinnen aus Paris, überirdisch schöne junge Damen. Manchmal stand hinter der Berufsbezeichnung auch noch das Wort: „Kurtisane“, das ich nicht kannte.
Am häufigsten vertreten war die Balletttänzerin Cléo de Mérode mit einem herrlichen ovalen Gesicht, aufgeworfenen Kusslippen und einer Haarpracht, die bis zum Gürtel herunterreichte und damit dasjenige verdeckte, was man am liebsten gesehen hätte.
Aus dem beigedruckten Lebenslauf erfuhr man, daß Cléo die (uneheliche) Tochter einer österreichischen Aristokratin war. Daß sie schon mit sieben Jahren Balletttänzerin an der Pariser Oper war – und daß sie bei dem Wettbewerb einer französischen Zeitschrift als rätselhafteste Schönheit von Paris den ersten Preis errungen hatte, noch vor Sarah Bernhardt, die eigentlich als unschlagbar galt. Ich war sofort verliebt in diese Cléo, auch wegen ihres Namens natürlich (der eigentlich Cléopâtre hieß).
Ziemlich genau ein halbes Jahrhundert später lerne ich sie kennen. Sie wohnt Rue de Téhéran, mitten im bewegten Pariser Geschäftsviertel. Von ihren 12 Zimmern bewohnt sie höchstens zwei oder drei, die übrigen sind museal eingerichtet, mit unzähligen Porträts ihrer jugendlichen Schönheit in diversen Kostümen. Und nun? Ich weiß nicht, was ich jugendlicher Romantiker mir erwartet hatte. Jedenfalls nicht diese uralte Hexe.
Die Wangen purpurrot überschminkt, die eisgrauen Haare mit roten Farbtupfen übersät. Ihre erste Frage – noblesse oblige – gilt meiner Herkunft. Als ich Österreich erwähne, blüht sie geradezu auf. Erkundigt sich angelegentlich nach solchen feudalen Familien wie die Schwarzenberg, Starhemberg, Fürstenberg, Hohenberg, Auersperg. (Dabei kenne ich höchstens Goldenberg, das koschere Restaurant im Maraisviertel).
Die Welt spottete über „Cléopold“
Natürlich lenke ich das Gespräch auf König Leopold II von Belgien, mit dem sie ja ein sprichwörtliches Verhältnis gehabt haben soll. Ja, der ihretwegen im Volksmund der „Cléopold“ genannt wurde. Und ob es stimme, dass der König ihr im Fall sie ihn heiraten wolle, den in seinem Privatbesitz befindlichen Kongo als Hochzeitsgeschenk angeboten habe? Cléo lacht schrill.
Der König habe sie nur als Deckung für seine sonstigen Affären benutzt. Ich weise auf ein eben dort aufliegendes Witzblatt der Zeit, in dem ihr (für seine Behaarung berüchtigter) Protektor als Gorilla gezeichnet wird. Im Arm niemanden sonst als die splitternackte Cléo. Offensichtlich die Inspiration für den Hollywoodfilm „King Kong“, in dem eine Filmcrew den Urwald abfilmt und dabei das junge Ding an einen Menschenaffen verliert.
War Cléo auch die üppige Kurtisane, als die sie oft herausgestellt wurde? Als die Autorin Simone de Beauvoir sie Jahre später in ihrem kämpferischen Buch „Das andere Geschlecht“ als solche bezeichnete, ging Cléo stracks vor Gericht. Und gewann! Die Passage musste in späteren Auflagen gestrichen werden.
Spätabends verabschieden wir uns von Cléo unter vielen Bücklingen. Und erreichen die Rue de Téhéran mit dem Hochgefühl, etwas Einzigartiges auf ewig fixiert zu haben.
Am gleichen Abend Anruf des Kameramanns von seinem Hotelzimmer aus. Es sei ihm leider etwas Furchtbares passiert, das ihm nicht einmal vor Stalingrad etc. etc. Kurz, die Flügelblende der Arri Kamera habe versagt, und wir hätten von dem gesamten Besuch nicht eine einzige Sekunde auf Film.
Georg Stefan Troller, 1921 in Wien in eine jüdische Familie geboren, lebt in Paris. Zu seinen wichtigsten Werken gehören rund 1500 Interviews, u. a. im Rahmen des „Pariser Journals“ und der „Personenbeschreibung“. In dieser Kolumne berichtet er, inzwischen 103 Jahre alt, monatlich von seinen Begegnungen.