Hat hier jemand den Finanzminister gesehen? Der Gesuchte ist fast zwei Meter groß und 46 Jahre alt, er hat eine Wuschelfrisur und Jahreseinnahmen von 389 Milliarden Euro. Finanzminister Lars Klingbeil trat zum ersten Mal im Schloss Bellevue auf, neben dem Bundespräsidenten, die Ernennungsurkunde fest umgriffen von beiden Händen. Mehr als zwei Wochen ist das schon her. Seitdem macht sich Lars Klingbeil als Fachminister öffentlich rar.
Einige Bundesminister sind gerade neu im Amt und müssen sich in ein neues Thema einarbeiten – völlig normal bei einem Regierungswechsel. Bei Klingbeil ist aber auffällig, dass er sich mit fachpolitischen Äußerungen besonders zurückhält. Seine erste Rede im Bundestag als Finanzminister war nur eine Art Hörspielversion des Koalitionsvertrags, konkreter wurde er nicht. Bei seiner ersten Pressekonferenz zur Steuerschätzung gab er kniffelige Fragen an seinen Staatssekretär ab.
Klingbeil kennt sich aus in der Digitalpolitik, in der Verteidigungspolitik, aber nicht in der Finanzpolitik. Aber das ist, siehe Kabinettskollegen, kein Hindernis, um sich in einen neuen Fachbereich zu vertiefen. Zumal die Beamten in einem Ministerium anders als der neue Chef ihren Job schon etwas länger machen. Die Fachabteilungen kennen sich aus. Sie schreiben Mappen voll für den Minister. Die Informationen sind also da, nur kostet es viel Zeit, alles zu lesen.
Statt Akten aus dem Finanzministerium zu lesen, musste er sich um die SPD kümmern
Klingbeil aber hat noch zwei weitere Jobs, die ebenfalls viel Zeit in Anspruch nehmen. Er ist auch Parteivorsitzender der SPD und Vizekanzler. Beide Positionen haben ihn in den ersten Wochen der neuen Regierung gefordert und dürften Gründe dafür sein, warum die Finanzpolitik im Kalender vielleicht etwas kürzer kam. Die Sozialdemokraten haben Redebedarf seit dem schlechten Ergebnis bei der Bundestagswahl. Die Frage, was aus Saskia Esken wird, wühlte die Partei auf. Erst seit Kurzem ist klar, dass Klingbeil künftig mit Bärbel Bas die SPD führt.
Auch als Vizekanzler war Klingbeil schon gefragt. Direkt zum Start von Schwarz-Rot ruckelten die neuen Grenzkontrollen die Koalition durch. Als kurz darauf der neue Außenminister bei den Verteidigungsausgaben von fünf Prozent sprach, musste sich Klingbeil erneut einschalten. Und als Sozialministerin Bas forderte, dass auch Beamte, Abgeordnete und Selbständige in die Rentenkasse einzahlen sollten, obwohl die Union andere Reformideen für die Rente hat, sprang Klingbeil ihr bei. Er erklärte im Bundestag, er könne sich auch vorstellen, als Politiker in die Rentenkasse einzuzahlen – das sei aber nur seine „private Meinung“. Sprich: Die Union sollte Bas’ Einwurf nicht überinterpretieren.
Ganz schön was los also, das könnte erklären, warum Finanzfragen zurücktreten. Als Klingbeil während der Vorstellung der Steuerschätzung beispielsweise nach der kalten Progression gefragt wurde, zeigte er nur auf seinen Staatssekretär, der neben ihm saß und schwieg selbst dazu. Dabei ist die kalte Progression für jeden Finanzminister eine Grundsatzfrage. Sie beschreibt den Effekt, wenn Arbeitnehmer nach einer Gehaltserhöhung mehr Steuern zahlen müssen, obwohl ihr zusätzliches Einkommen gerade einmal die Inflation ausgleicht, sie sich also unterm Strich nicht mehr leisten können als vorher. Dem Staat bringt das Mehreinnahmen im niedrigen einstelligen Milliardenbereich, wenn er die Eckwerte für die Steuererklärungen nicht an die Inflation angleicht.
Will Klingbeil dieses Geld für den Haushalt einstreichen oder erspart er den Bürgern diese kalte Steuererhöhung? Der Finanzminister legt sich nicht fest. Er sagte nicht mal allgemein, wie er das Thema sieht.
Kleiner Erfolg auf der ersten Auslandsreise: das Treffen mit US-Finanzminister Scott Bessent
Diese Woche ist Klingbeil in Banff in Kanada, beim G-7-Treffen der Finanzminister von Dienstag bis Donnerstag. Bei den Gesprächen der sieben wirtschaftsstärksten Demokratien der Welt geht es inhaltlich zur Sache. Können die anderen sechs Minister auf den US-Kollegen einwirken, bei den Zöllen milder zu werden? Wie könnte der Wiederaufbau der Ukraine finanziert werden? Spätestens auf dem Hinflug nach Kanada, als Klingbeil sich in die Streitpunkte des Treffens vertiefte, dürfte er sich erinnert haben: Ach stimmt, ich bin ja auch Finanzminister!

Für Klingbeil sind die beiden Tage im Hotel in den kanadischen Rocky Mountains eine Bildungsreise. Er kann lernen, wie die ausländischen Kollegen, mit denen er internationale Finanzpolitik macht, ticken. Besonders wichtig: Klingbeil hat zum ersten Mal mit US-Finanzminister Scott Bessent gesprochen. Die beiden trafen sich zu zweit zum Frühstück.
Das Gespräch zwischen Klingbeil und dem früheren Hedgefonds-Manager sei ein offener, konstruktiver Austausch gewesen, hieß es anschließend aus Delegationskreisen. Bessent habe Klingbeil nach Washington eingeladen. Seine erste internationale Reise bringt ihm also den gewünschten Erfolg: schöne Bilder aus den kanadischen Bergen und internationales Renommee.
In den nächsten Wochen wird es ernst: Der Minister muss den ersten Haushalt aufstellen
Klingbeils öffentliche Zurückhaltung in der Finanzpolitik darf nicht so verstanden werden, dass in seinem Ministerium nicht gearbeitet wird. Das Gegenteil ist der Fall. Kurz vor seinem Abflug nach Kanada gab das Haus den anderen Ministern Hausaufgaben auf. Die lieben Kollegen und Kolleginnen sollen bis Freitag anmelden, wie viel Geld sie 2025 ausgeben wollen – und wo sie sparen werden. Zum ersten Mal wird die Ausnahme für den Haushalt des Bundesverteidigungsministeriums greifen. Wegen der jüngsten Grundgesetzänderung sind Ausgaben für die Sicherheit der Bundesrepublik nicht mehr durch die Schuldenbremse gedeckelt.
Die Ausgabenwünsche der Ministerien werden das Finanzministerium natürlich nicht völlig überraschen. Daher sollte es im Haus auch schon Vorstellungen geben, um wie viele Milliarden die Anmeldungen die Steuereinnahmen übersteigen. Auch hier will Klingbeil sich öffentlich nicht festlegen. Es könnte allerdings schlicht Verhandlungstaktik sein, diese Gespräche direkt nach dem Start der Regierung nicht von öffentlichem Druck durch den Finanzminister zu begleiten.
Öffentlich bedacht hat Klingbeil bisher lediglich die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Bei den Krankenkassen und in der Pflege würden bald schon wieder die Beiträge steigen, wenn der Bund nicht Steuergeld zuschießt. Warken darf wohl mit Geld rechnen, da Klingbeil bereits zugesagt hat, hier zu „stabilisieren“. Die Logik dahinter: Noch weitere steigende Beiträge würden den dringend nötigen Wirtschaftsaufschwung erschweren.
Ende Juni soll der Budgetplan für 2025 zusammen mit den ersten Förderprogrammen für Unternehmen im Bundeskabinett beschlossen werden. Das ist recht bald. Damit Schwarz-Rot diese Dinge wirklich schnell umsetzen kann, kommt es nicht nur auf Finanzminister Klingbeil an, es braucht dann auch den Vizekanzler Klingbeil und den SPD-Chef Klingbeil. Die SPD-Ministerien müssen mitziehen, ebenso die SPD-Bundestagsfraktion und die SPD-mitregierten Bundesländer für die Abstimmungen im Bundesrat. Das hinzubekommen, ist für den Erfolg von Schwarz-Rot wichtiger, als noch eine Akte zum Einlesen aus dem Finanzministerium durchzuarbeiten.