„Historisch“ ist der Moment, da sind sich alle einig: Die Briten nähern sich wieder an Brüssel an, gleich durch mehrere Vereinbarungen. Aber noch ist nicht alles in Sack und Tüten. Und Premier Starmer muss auf der Hut sein – innenpolitisch steht er enorm unter Druck.
Freundliche Gesichter, viel Lob und eine vertraute Atmosphäre: Sowohl EU-Ratspräsident António Costa als auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gaben sich Mühe, den britischen Premierminister Keir Starmer am Montag auf dem EU-Großbritannien-Gipfel in ein gutes Licht zu rücken. Während der Pressekonferenz in London duzten sich die drei. Der „liebe Keir“ wurde von den anderen beiden für sein „Engagement“ hinsichtlich dieses „historischen Moments“ gepriesen- dem ersten Gipfeltreffen von Brüssel und London seit dem Brexit. Und auch Starmer bedankte sich bei „António“ und „Ursula“ für ihre gute Führung. Doch als britische Journalisten begannen, Fragen zu stellen, wurde schnell klar: Der Brexit hängt noch immer wie ein Damoklesschwert über den Beziehungen zwischen der EU und den Briten.
Großbritannien war vor fünf Jahren aus der Europäischen Union ausgetreten. Der Brexit, durch den die Briten der Bürokratie der EU entfliehen wollten, hat ihnen wirtschaftlich massiven Schaden zugefügt. Laut Umfragen bereut eine Mehrheit unter ihnen inzwischen die Entscheidung für den Austritt aus der EU. Zugleich gibt es wenig Interesse an einem Wiedereintritt. Dennoch näherte sich London unter Starmer kontinuierlich an Brüssel an – insbesondere an Paris und Berlin. Das zeigt sich im koordinierten Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem neuen US-Präsidenten Donald Trump.
Die Liste der gemeinsamen Ziele, auf die sich Starmer, von der Leyen und Costa auf dem Gipfel einigen konnten, ist auf den ersten Blick beachtlich. Sie umfasst Zusammenarbeit in den Bereichen Verteidigung, Fischerei, Jugendmobilität, Migration, Lebensmittelkontrollen, Energiekooperation, Emissionshandel sowie die Verlängerung der Freihandelszone für Stahl. Doch viele dieser Vereinbarungen sind noch keine konkreten Abkommen, sie legen lediglich den Grundstein dafür. Der „Neustart“ nach dem Brexit, den Starmer den Briten versprochen hat, birgt viele Fallstricke – vor allem für ihn selbst.
Neue Partei von Nigel Farage hat Aufwind
Die Stimmung im Land kippt allmählich, nur ein Jahr nach der letzten Wahl zum Unterhaus, zugunsten von Rechtspopulisten. In Umfragen liegt Starmers sozialdemokratische Labour-Partei inzwischen regelmäßig hinter der europaskeptischen Partei Reform UK von Nigel Farage. Auch Starmers persönliche Beliebtheitswerte sanken laut einer Umfrage von Yougov auf einen Tiefpunkt von 23 Prozent, sogar unter der Labour-Wählerschaft sackten sie enorm ab. Bereits bei den Kommunalwahlen Anfang Mai trieb Farages Partei sowohl Labour als auch die konservativen Tories vor sich her.
Angesichts des Drucks, unter dem er steht, betonte Starmer auf der Konferenz, er halte die „roten Linien des Brexit-Manifests“ ein: „kein Wiedereintritt in den Binnenmarkt oder die Zollunion sowie keine Rückkehr zur Personenfreizügigkeit“. Die Tories hatten bereits angekündigt, jeden Deal, der ihre enge rote Linie überschreitet, sofort nach ihrer möglichen Rückkehr an die Regierung zu zerreißen. Derweil kündigte Reform UK an, Starmer in der Einwanderungsfrage hart anzugehen, sollte er das von der EU geforderte Jugendmobilitätsprogramm für Unter-30-Jährige unterzeichnen. So blieb es beim Gipfel zunächst nur bei einer Absichtserklärung, auf ein solches Programm hinzuarbeiten – und ihm enge Grenzen zu stecken.
Jegliches Entgegenkommen gegenüber der EU bei den Verhandlungen bot den britischen Oppositionsparteien eine willkommene Angriffsfläche. Besonders heftig kritisierten sie Starmers Zugeständnisse an Frankreich und andere EU-Nationen hinsichtlich der Genehmigungen für Fischquoten in britischen Gewässern. Eine für die EU-Fischer großzügig ausgelegte Vereinbarung wird nun bis zum 30. Juni 2038 verlängert. Tory-Chefin Kemi Badenoch sagte, mit der Verlängerung des Fischereiabkommens würden die Briten „wieder einmal zu einem Akteur werden, der sich die Regeln aus Brüssel aneignet“. Farage entwarf eine besonders düstere Prognose: „Wenn das stimmt, wird es das Ende der Fischereiindustrie sein.“
Für britische Fischindustrie soll EU-Export vereinfacht werden
Von Journalisten auf die Kritik angesprochen, verteidigte sich Starmer mit Verweis auf die gemeinsamen Lebensmittel- und Pflanzenschutzstandards, auf die er mit der EU hinarbeite. Davon werde auch die Fischindustrie profitieren, die bereits 70 Prozent ihrer Produkte in die EU verkaufe, sagte er. Denn durch das Abkommen würde der Handel mit Fischereiprodukten vereinfacht und unnötige Grenzkontrollen vermieden. Um der Branche weiter unter die Arme zu greifen, kündigte Starmer Fördergelder in Höhe von etwa 430 Millionen Euro an.
Das jedoch schien die Kritiker nicht zu beruhigen – im Gegenteil. Ein Journalist wies darauf hin, es werde jetzt wieder EU-Regeln für britische Lebensmittel geben, was den Brexit-Befürwortern in die Karten spiele. Ein anderer fragte von der Leyen, ob die Briten nun gegen ihren Willen wieder dem Diktat der Bürokraten in Brüssel ausgesetzt seien. Es ist bezeichnend für die Stimmung im Saal, dass sich von der Leyen anschließend bemüßigt sah zu erklären, Großbritannien sei eine „souveräne Nation“, die Abkommen wie jene mit der EU auf Augenhöhe aushandle, um zu „definieren, was die Regeln sind“.
Es gibt auch vergleichsweise wenig umstrittene Bereiche bei der Zusammenarbeit. Dazu gehört der Verteidigungs- und Sicherheitspakt, den Großbritannien und die EU abschlossen. Starmer befürwortete in diesem Zusammenhang eine britische Teilnahme am zivilen und militärischen Krisenmanagement der EU. Zudem soll Großbritannien Zugang zum 150 Milliarden Euro schweren Wiederaufrüstungsprogramm SAFE der EU erhalten. Allerdings sind auch dafür weitere Verhandlungen erforderlich. Und der Eintrittspreis hierfür sind Haushaltsbeiträge aus London.
Wer Abkommen schließt, muss aufeinander zugehen. Starmer sind für Zugeständnisse offensichtlich äußerst enge Grenzen gesetzt, wenn Brüssel und London in den kommenden Monaten weiterverhandeln, um ihre Ziele umzusetzen. Am Ende könnte alles umsonst gewesen sein – falls in ein paar Jahren Rechte oder Konservative an die Macht kommen, die alles Vereinbarte rückabwickeln.