Bei der Infrastruktur im All haben die USA einen riesigen Vorsprung. Mit einem neuen Projekt wollen die Europäer aufholen und eine Alternative zu US-Unternehmen bieten. Dabei geht es nicht allein um wirtschaftliche Profite – sondern auch um geostrategische Unabhängigkeit.
In wenigen Wochen wird sie ihre Reise über den Atlantik nach Französisch-Guayana antreten. Roboter werden die 31 Meter lange Hauptstufe der Schwerlastrakete Ariane 6 aus der riesigen Fabrikhalle im Pariser Vorort Les Mureaux hinausrollen und zum naheliegenden, aber mit hohen Zäunen und Stacheldraht abgesperrten Ufer der Seine schieben, wo sie auf einem Lastkahn verladen und nach Le Havre transportiert wird.
Im Hafen von Le Havre wird schon die „Canopée“ warten, das weltweit erste Hybrid-Lastschiff, ein Riesentanker mit vier über 30 Meter hohen Segelmasten, die aus der Ferne wie Silos aussehen, von den Ingenieuren aber poetisch als „Oceanwings“ bezeichnet werden, Flügel des Ozeans.
Auf dem Schiff, eine Sonderanfertigung für die deutsch-französische Ariane Group, wird dann bereits die in Bremen gebaute Oberstufe geladen sein, auch die Nutzlastverkleidung, die Raketenspitze, die in Rotterdam an Bord geht. Bremen, Rotterdam, Le Havre, Bordeaux, Kourou, das ist die Endstation einer 8000 Kilometer langen Seeroute zum europäischen Weltraumbahnhof im französischen Überseedepartement. Die Reise ist 28 Tage lang, die Fracht ein Vermögen wert.
Noch liegt der Zylinder der Hauptstufe der Ariane 6 in der Halle N80 von Les Mureaux, eine Fabrik so groß wie dreieinhalb Fußballfelder, sauber und staubfrei. Auch die Haupttriebwerke kann man da hinter Plastikvorhängen erspähen, Vulcain 2.1. genannt, ein einziges zählt 140.000 Einzelteile und muss fast ebenso viele Tests überstehen.
Es sind nur wenige Arbeiter an diesem Vormittag im Mai zu sehen, als würde die Rakete von Geisterhand gefertigt. Besucher müssen ihr Telefon vor dem Betreten der Fabrikhalle abgeben, Fotografieren ist strengstens verboten, nur Notizblock und Stift sind erlaubt.
Ariane 6 hat nach zehnjähriger Entwicklung und mit vier Jahren Verspätung im Juli 2024 ihren Jungfernflug absolviert. Am 6. März um 13:24 Uhr Ortszeit startete der erste kommerzielle Flug. An Bord war der französische Spionagesatellit CSO-3, was ihre Bedeutung in geopolitisch angespannten Zeiten erahnen lässt.
Für die Europäer steht viel auf dem Spiel. Mit dem verspäteten, aber erfolgreichen Start scheint die Pechsträhne beendet. Die dritte Ausführung der Rakete wartet in Kourou auf ihren Start im Juli. An Nummer vier, fünf und sechs wird in Les Mureaux bereits gebaut.
Gnadenloser Wettlauf
„Die Krise liegt hinter uns“, sagt David Cavaillolès. „Unsere Auftragsbücher sind für die nächsten Jahre voll“. Cavaillolès ist seit Januar Vorstandsvorsitzender von Arianespace, des Unternehmens, das die Starts organisiert und vermarktet, während Ariane Group die Raketen baut. Arianespace will nach jahrelanger Krise Tempo machen. Neun bis zehn Starts im Jahr sind geplant, ungefähr doppelt so viele wie für das Vorgängermodell.
„Wir erleben einen Aufschwung“, sagt Cavaillolès, die Nachfrage sei da. „Mehr als je zuvor suchen die Kunden mit den jüngsten geopolitischen Entwicklungen nach Alternativen. Sie wollen nicht von einem einzigen Anbieter abhängig sein, noch dazu von einem turbulenten Anbieter wie SpaceX“, erklärt der Manager.
Um den Weltraum hat ein gnadenloser Wettlauf begonnen. Es geht nicht mehr um Science-Fiction, sondern um Märkte, Gewinnaussichten und Geschäfte, deren Volumen die Experten von McKinsey & Co für die nächsten zehn Jahre auf 1,8 Billionen Dollar beziffern, eine schlichte Verdreifachung. Elon Musk und Jeff Bezos sind mit ihren privaten Unternehmen schon oben und haben die USA und den alten Kontinent abgehängt.
Zwei Drittel der Starts der Ariane 6 werden an Privatkunden verkauft, ein Drittel sind militärisch. Das ist das Geschäftsmodell. Das eine finanziert das andere. Einer der wichtigsten Privatkunden ist Amazon. Bezos will mit seiner Firma Blue Origin Musk Konkurrenz machen und für sein Kuiper-Projekt 1600 Satelliten auf eine niedrige Erdumlaufbahn setzen. Er braucht dafür nicht nur die Raketen seines Konkurrenten, sondern auch die der Europäer.
Aber es geht beim Wettlauf ums All nicht allein um wirtschaftliche Profite, sondern entscheidender noch um geostrategische Unabhängigkeit. „Unsere Souveränität hängt heute vom Zugang zum Weltraum ab“, sagt Ariane-Chef Martin Sion im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Für Europa ist es heute unabdingbar, diesen zu behalten“.
Nicht nur Privatkunden können sich nicht mehr auf die Zusammenarbeit mit den Amerikanern verlassen, für Staaten ist es eine Frage des Überlebens. Wer abhängig ist, ist erpressbar. Die Europäer haben begriffen, dass sie eigene Kommunikations- und Navigationsdienste brauchen. „Der Krieg in der Ukraine hat den strategischen Nutzen des Weltraums in modernen Konflikten deutlich gemacht“, heißt es in einem Bericht des International Institute for Strategic Studies.
Bei Ariane Group ist das militärische Know-how eng mit dem zivilen verstrickt. Parallel zum Start der Ariane 6 hat der Konzern die dritte Generation der Atomwaffenrakete M51 entwickelt, mit der die französischen U-Boote ausgestattet sind. Sie absolvierte im Dezember 2023 ihren Testflug. Inzwischen wird an der vierten Generation gearbeitet.
„Die geopolitische Entwicklung führt uns vor Augen, dass man zwischen militärischer und ziviler Nutzung, zwischen Ariane 6 und M51, nicht mehr trennen kann“, sagt Sion. Keine andere Wirtschaftsbranche hätte eine „so positive gesellschaftliche Wirkung bei einer so geringen Umweltbelastung“.
Wenn man den französischen Managern zuhört, fühlt man sich zuweilen wie auf einer Kaffeefahrt, bei der es vor allem darum geht, etwas zu verkaufen. Man will der Öffentlichkeit nach einer Phase der Krise ein besseres Bild vermitteln und plausibel erklären, warum zukünftige Investitionen der Europäischen Weltraumorganisation ESA unabdingbar sind.
Europa muss sich seine eigene Infrastruktur im All einrichten, keine Frage. Dafür braucht es eigene Satelliten, aber auch eigene Raketen. Laut einem Bericht des Bundesverteidigungsministeriums liefern die USA dreiviertel aller militärischen Aufklärungsdaten der Nato, Deutschland trägt gerade einmal mit einem Prozent dazu bei. Mit dem Projekt Iris2 versucht Europa aufzuholen oder zumindest nicht komplett abgehängt zu werden.
Musks neuer Markt
Mit SpaceX und dem Satellitennetzwerk Starlink kann und will Ariane Group nicht konkurrieren. Musks Firma hat nicht nur Raketen, die wiederverwendbar sind und 150 bis 200 Starts im Jahr leisten können, er baut auch die Satelliten und Bodenstationen. Als Ariane 6 vor zehn Jahren geplant wurde, war das noch Zukunftsmusik. „Niemand sah damals die Notwendigkeit eines Satellitennetzwerkes“, sagt Sion. „Musk hat den Markt erst geschaffen, er hat selbst für die Nachfrage gesorgt.“
2014 war auch das Jahr, als Moskau die Krim besetzte. Ein erster Warnschuss. Mit der Invasion Russlands in die Ukraine beendeten die Europäer 2022 ihre Zusammenarbeit mit dem russischen Weltraumprogramm Sojus. Unlängst drohte Musk, die Starlink-Satelliten für die Ukrainer abzuschalten.
Weiter geht es mit dem Minibus in die erste Fabrikhalle des abgeschirmten Geländes von Les Mureaux, wo die Raketenteile jahrzehntelang stehend, nicht wie jetzt, liegend, montiert wurden. Dort kann man den Prototyp einer wiederverwendbaren Unterstufe besichtigen, die diesen Sommer in Nordschweden ihren ersten 20-Meter-Testflug machen soll. Als „Flohsprung“ bezeichnet das Antonin Ferri, Direktor des Zukunftsprogramms von Ariane Group.
Musk beherrscht diese Technologie längst. Dass seine Raketen sicher wieder auf die Erde zurückkehren, macht den Unterschied und erlaubt ihm seinen sagenhaften Rhythmus. „Der Wettlauf um den Weltraum ist ein Marathon, kein Sprint“, sagt Ferri. Das ist ein netter Spruch, aber vielleicht hat er recht. 20 Sekunden soll der Prototyp in der Luft bleiben, und dann auf seinen Beinen landen. Ferri kann nicht sagen, ob das klappt. Sicher ist nur der Spott, mit dem Musk den „Flohsprung“ kommentieren wird.
Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.