Der konservative Oppositionspolitiker Magyar macht Orban in Umfragen Konkurrenz. Ungarns Ministerpräsident plant deshalb ein Gesetz, das alle seine Kritiker mundtot machen soll. Die betroffenen Organisationen flehen die EU um Hilfe an.
Von Oppositionspolitikern über Medien bis hin zu Nichtregierungsorganisationen: Die ungarische Zivilgesellschaft musste unter der korrupten Regierung in Budapest bereits allerlei staatliche Schikanen erdulden. Aber was Ministerpräsident Viktor Orban nun plant, stellt das alles in den Schatten. Mitte Juni will Orban sein „Gesetz über die Transparenz des öffentlichen Lebens“ im Eilverfahren durch das Parlament jagen. Damit würde er Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Medien auf einen Schlag die gesamte Existenzgrundlage entziehen.
329 Nichtregierungsorganisationen schrieben einen offenen Brief, in dem die Europäische Kommission aufgefordert wird, Orban bei seinem Vorhaben Einhalt zu gebieten. Darin wird die Methodik des Gesetzes detailliert beschrieben. Demnach soll die im Februar 2024 von der Regierung ins Leben gerufene „Behörde zum Schutz der Souveränität“ eine Schwarze Liste erstellen mit Einrichtungen, die durch ausländische Finanzierung angeblich „das öffentliche Leben beeinflussen“. Die Kriterien für diese Einstufung sind nicht näher definiert. Die Liste würde per Regierungsdekret festgelegt.
Wer auf der Schwarzen Liste landet, darf keine Zuwendungen aus dem Ausland mehr erhalten. Zu der ausländischen Finanzierung zählen auch EU-Fördergelder – und im Grunde jeder Cent, den Parteien, Medien oder Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland erhalten. Auch Spenden aus Ungarn würden de facto unmöglich gemacht, heißt es in dem Brief. Falls eine Organisation auf der Liste doch weiter ausländische Mittel erhält, könnten ihr neben einem Verbot auch saftige Geldbußen drohen. Den Einrichtungen blieben kaum Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen. Ohnehin würden Klagen kaum zum Erfolg führen, da Orban die Justiz bereits unter Kontrolle gebracht hat.
Orbans Regierung „kann dich ersticken, verhungern, erwürgen“
Falls das Gesetz Mitte Juni erlassen wird, könnte sich Márta Pardavi gezwungen sehen, ihre Menschenrechtsorganisation zu schließen. Pardavi ist Co-Vorsitzende des Hungarian Helsinki Committee in Budapest. „Wenn Orbans Regierung dich und deine Organisation nicht mag, kann sie dir das Geld wegnehmen. Sie kann dich ersticken, verhungern, erwürgen“, sagt Pardavi, deren Organisation 2021 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, gegenüber ntv.de.
Fast zwei Dutzend Versuche habe Orbans Regierung bereits unternommen, um Kritiker in der ungarischen Zivilgesellschaft mit Gesetzen mundtot zu machen – darunter das für ausländische Agenten, das 2020 vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben wurde. Aber keiner dieser Versuche sei eine derart „tödliche Waffe“ gewesen wie das Transparenzgesetz, sagt Pardavi. Sie sieht darin ein deutliches Zeichen für die „Ungeduld und den Hunger des Regimes“ angesichts der ungarischen Parlamentswahlen im kommenden Jahr.
Orban sieht sich in seiner Macht bedroht. Im Oppositionspolitiker Peter Magyar hat er einen ernsthaften Konkurrenten gefunden, der ihm den Wahlsieg kommendes Jahr streitig machen könnte. Magyar und seine konservative Partei Tisza (Respekt und Freiheit) lehnen Orbans „illiberale Demokratie“ ab. Und in Umfragen liegen sie regelmäßig vor Orbans Partei Fidesz. Auch Magyars Partei könnte durch das Transparenzgesetz die Finanzierung entzogen werden. Magyar bezeichnet das geplante Gesetz als „neuen Schritt auf dem Putin-Weg“. Tatsächlich ähnelt der Gesetzentwurf dem russischen Agentengesetz, durch das Präsident Wladimir Putin seit 2012 gesellschaftliche Organisationen und unabhängige Medien ausschaltet.
EU-Kommission könnte das Gesetz stoppen
Da Orban die Justiz in Ungarn bereits weitgehend kontrolliert, bleibt als letzte Hoffnung für die ungarische Zivilgesellschaft ein Einschreiten der EU-Kommission. Beobachter sind sich darüber einig, dass das Transparenzgesetz, sollte es in Kraft treten, ohnehin vom EuGH gekippt würde. Dies allerdings würde Jahre dauern. Pardavi sieht deshalb die einzige Lösung in einem Antrag der Kommission auf einstweilige Maßnahmen in einem Vertragsverletzungsverfahren der EU, das bereits gegen Ungarn läuft.
Dieses Verfahren steht in enger Verbindung zu dem Transparenzgesetz, da es die ausführende „Behörde zum Schutz der Souveränität“ ins Visier nehme, so Pardavi; „Die Kommission könnte von Ungarn fordern, das Transparenzgesetz auszusetzen, während das Verfahren gegen die Behörde noch läuft. Das ist nötig, denn die ungarische Zivilgesellschaft nimmt irreversiblen Schaden, wenn man sich an den Zeitplan des langwierigen Verfahrens hält.“
Bislang hat die Kommission nicht reagiert. Pardavi zeigt sich davon enttäuscht. Schließlich schaffe das Gesetz nicht nur russische Verhältnisse in der EU, es besitze auch enorme Sprengkraft für die europäische Wirtschaft und den Binnenmarkt, meint sie. Theoretisch könnte auch jedes international tätige Unternehmen, das in Ungarn Geschäfte macht, auf der Liste landen. Zudem gerieten internationale Banken unter Druck, da sie dazu verpflichtet wären, jede ausländische Finanzierung zu prüfen. Pardavi sieht die EU hier in der Pflicht, ihren Binnenmarkt zu schützen.
Abgeordnete fordern Blockade aller EU-Gelder für Orban
Auch im Europäischen Parlament wächst der Druck auf die Kommission. Eine Gruppe von 26 Abgeordneten verlangte von ihr in einem Brief, die Überweisung jeglicher EU-Gelder an Ungarn auf Eis zu legen. „Wir fordern die Europäische Kommission auf, den Druck auf die Regierung von Viktor Orban zu erhöhen, damit sie die Verstöße gegen EU-Werte und EU-Gesetze einstellt“, heißt es in dem Schreiben, das an Haushaltskommissar Piotr Serafin adressiert ist. Als Beispiele werden darin unter anderem die Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz und die Einschränkung der Versammlungsfreiheit angeführt.
Zu den Unterzeichnern gehören Abgeordnete der Grünen, der Sozialdemokraten, der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) sowie der Liberalen und der Linken. Als ein Grund für die Forderung wird das 2022 eingeleitete sogenannte Konditionalitätsverfahren der Kommission aufgeführt. Durch das Verfahren wurde die Auszahlung von EU-Geldern an Budapest wegen mangelnder Transparenz blockiert. Orbans Regierung reagierte zwar mit Reformen – die Blockade eines Teiles der Finanzmittel wurde so aufgehoben. Doch rund 19 Milliarden Euro sind weiterhin eingefroren. Die EU-Abgeordneten kritisieren in ihrem Brief nun, Ungarn habe seit 2022 keine nennenswerten Fortschritte gemacht – die Reformen seien unzureichend. Und in wenigen Wochen kommt potenziell das Transparenzgesetz hinzu.
„Auch aufgrund des Transparenzgesetzes sollten zusätzliche Gelder eingefroren werden“, sagt der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund ntv.de.: „Das Transparenzgesetz verstößt grundlegend gegen die EU-Grundrechtecharta, vor allem das Recht auf Privatsphäre, Rede- und Versammlungsfreiheit und die Unschuldsvermutung“, Verstöße gegen die Charta könnte die Kommission mit dem Einfrieren von Geldern ahnden. Durch das Transparenzgesetz würde es allen Akteuren – Zivilgesellschaft, Opposition und Medien – de facto unmöglich gemacht werden, weiter zu bestehen, falls sie auf die Schwarze Liste kommen, führt Freund aus.
Auch Katarina Barley, Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, fordert die Kommission auf, vor Orbans Machenschaften nicht die Augen zu verschließen. „Ungarn unter Viktor Orbán ist inzwischen eher ein Satellitenstaat von Russland als ein vollwertiges Mitglied der europäischen Wertegemeinschaft. Das neue Gesetz ist nicht weniger als der Versuch, letzte unabhängige Journalisten und Regierungskritiker ein für alle Mal mundtot zu machen“, sagt die SPD-Politikerin ntv.de.