
Erstmals seit einem Jahrzehnt steht der ehemalige Premierminister Justin Trudeau nicht zur Wahl. Er war im Frühjahr 2025 zurückgetreten – nach zehn Jahren im Amt des Regierungschefs.
Kanada ist flächenmäßig das zweitgrößte Land der Erde. Es ist ein Staat mit selbstbewussten Provinzen. Staatsoberhaupt ist der britische König.
Trumps Zollpolitik und seine Ankündigung, Kanada zu einem Bundesstaat der USA zu machen, haben zu einer erdrutschartigen Veränderung in Kanadas Politik geführt. Die Drohungen des US-Präsidenten haben Entwicklung der letzten zwei Jahre wenige Wochen vor der Wahl komplett umgekehrt.
Noch zu Jahresbeginn hätte niemand auf einen Wahlsieg der Liberalen gewettet. Nach zehn Jahren galten Premierminister Justin Trudeau und seine Partei als abgewirtschaftet und reif für die Opposition. Stattdessen sah es nach einem sicheren Wahlsieg des Konservativen aus. Mittlerweile liegt aber die regierende Liberale Partei in Umfragen vorne.
Die beiden chancenreichsten Spitzenkandidaten sind also der Vorsitzende der Liberalen, der neue Premierminister Mark Carney, und der Vorsitzende der Konservativen, Pierre Poilievre. Carney hatte nach seinem Amtsantritt als Regierungschef rasch Neuwahlen ausgerufen, um das überraschende Stimmungshoch der Liberalen nach Trumps Drohungen in einen Wahlsieg umzumünzen.
Carney ist kein packender Redner, und sein Französisch ist schlecht. Aber mit seiner ruhigen Art scheint er vielen Kanadiern geeigneter, das Land durch die schwerste Krise seit Jahrzehnten zu führen. „Das größte Risiko für unsere Wirtschaft ist Donald Trump. Er versucht, uns zu brechen, damit die USA uns übernehmen können. Sie wollen unseren Boden, unsere Rohstoffe, unser Wasser, unser Land“, sagt Carney, Polit-Neuling und Ex-Notenbankchef von Kanada und Großbritannien.

Viele Monate lang hatte der konservative Kandidat Pierre Poilievre mit bis zu 20 Prozentpunkten Vorsprung an der Spitze der Umfragen gestanden. Seine Partei schien den Sieg bei den Wahlen in der Tasche zu haben. Bis zu Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus, den Zöllen und den Annexionsdrohungen.
Die markige Rhetorik von Poilievre, einem Berufspolitiker aus Alberta, traf lange Zeit einen Nerv bei vielen Kanadiern, die genug hatten von zehn Jahren Trudeau. „Ax the tax“, weg mit der verhassten CO2-Steuer auf Öl und Gas, mehr Förderung fossiler Energien, Senkung der Lebenshaltungskosten und weniger Einwanderung.
Wurden die Wähler gefragt, wer am besten verstehe, was normale Kanadier gerade durchmachten und welchem Kandidaten etwas an den Leuten liege, schnitt Poilievre besser ab als der liberale Premier. Teilweise erinnert die Wahlkampftaktik Poilievres an Trumps Wahlkampf: Sogar den Slogan „Canada First“ hatten die kanadischen Konservativen bei Trumps „America First“ abgeschaut.

Ist den Kanadiern die Senkung der Lebenshaltungskosten wichtiger oder die Verteidigung ihres Landes gegen US-Präsident Trump? Diese Frage wird am Ende die Wahl entscheiden, glauben viele Meinungsforscher.
Vor allem in den Westprovinzen Kanadas wollen viele Wählerinnen und Wähler eine grundsätzlich andere Politik als die der vergangenen zehn Jahre unter der liberalen Regierung Trudeau. Sie verlangen ein Ende der Klimapolitik und der verhassten Carbon Tax, der Steuer auf CO2-Emissionen. Im Westen Kanadas spielen fossile Energien eine wichtige Rolle, die Wege zur Arbeit sind weit. Einstellungen und Lebensstil erinnern in den West-Provinzen oft stärker an die Rocky Mountains in den USA als an Kanadas Osten.
Automobiltechnik-Professor Peter Frise lehrt an der Hochschule in Windsor, nur eine Brückenüberquerung entfernt von der US-Autometropole Detroit. Kaum eine Region ist stärker von den US-Zöllen betroffen. Oppositionskandidat Poilievre habe die dramatische Lage, in der sich sein Land befinde, nicht ansatzweise begriffen, sagt Frise. „Poilievre hat immer noch die CO2-Steuer auf fossile Brennstoffe kritisiert, als Trump schon mit Zöllen drohte und uns zum 51. Staat machen wollte.“
Sowohl Carney als auch Poilievre haben erklärt, dass sie im Fall ihrer Wahl die Neuverhandlungen des Freihandelsabkommens zwischen Kanada und den USA beschleunigen würden, um die Unsicherheit zu beenden, die beiden Volkswirtschaften schade.
Trumps rüder Umgang mit Kanada hat die Bevölkerung entrüstet und zu einer Welle von Nationalstolz geführt, was den Liberalen geholfen hat, das Themenspektrum zu drehen. Politik-Kolumnist Andrew Cadell analysiert: „Wenn Trump sagt: ‚Ihr verdient es nicht, ein eigenes Land zu sein, werdet einer unserer Bundesstaaten´- dann macht das selbst die Menschen richtig wütend, die mit den USA sympathisieren.“
Die kanadischen Wahlen stehen nun vollständig im Zeichen von Donald Trump. Wählerinnen und Wähler würden mit einem frischen Blick auf Politik und Parteien schauen, sagt Politikberaterin Jordan Leichnitz im Podcast Canadaland. Die Frage sei nun: Wem trauten sie zu, Kanadas Interessen am besten gegen den mächtigen Nachbarn im Süden zu verteidigen?
Politik-Kolumnist Andrew Cadell sieht ein massives Glaubwürdigkeitsproblem für die Konservativen. Es sei kein Geheimnis, dass Teile von Poilievres Partei sehr pro Trump seien, sagt er: „Jetzt treten die Konservativen patriotisch in Rot und Weiß auf, ironischerweise die Farben der Liberalen Partei, und geben sich als Canada First. Da fehlt die Glaubwürdigkeit. Die Leute durchschauen das und sagen: Poilievre ist jetzt verzweifelt. Er kleidet sich in die kanadische Flagge und sagt Kanada First, obwohl er noch vor ein paar Wochen gesagt hat, Kanada sei kaputt.“
Die Wirtschaftsbeziehungen waren und sind bislang eng. Aber politisch was das Verhältnis zwischen beiden Nachbarn und NATO-Gründungsstaaten seit jeher kompliziert. Bis in das 20. Jahrhundert haben die Vereinigten Staaten immer wieder versucht, sich den Norden des Kontinents einzuverleiben. Schon 1845 hatte der Autor John O´Sullivan vom „Manifest Destiny“ gesprochen: Dass die USA dazu bestimmt seien, sich über den ganzen nordamerikanischen Kontinent auszubreiten. Auch deshalb hat sich Kanada seit seiner Gründung als halbautonomes Gebiet der britischen Krone vor 160 Jahren immer über den Nachbarn im Süden definiert. Anders, bewundernd und kritisch, in Abgrenzung.
In Kanada liebt man Ordnung und den Rechtsstaat mehr als Freiheit über alles, der Waffenbesitz zum Beispiel ist streng geregelt. Nüchtern war schon immer typisch für das Land: Während im amerikanischen Alaska während des Goldrausches der Alkohol in Strömen floss, gab es in den Bars am Yukon jenseits der Grenze nur Softdrinks. Dort regierte kein allmächtiger Sheriff, sondern die berittene Polizei in roter Uniform.
„Diese Konstruktion der nationalen Identität in Bezug auf unseren großen Nachbarn im Süden basiert darauf, dass Kanada gegründet wurde, um nicht die Vereinigten Staaten zu werden. Heute kehren wir in gewisser Weise wieder an den Ausgangspunkt zurück“, sagt der Politikwissenschaftler Daniel Béland von der McGill Universität in Montreal. Die existenzielle Bedrohung kanadischer Staatlichkeit durch Trump hätten Kanadas Provinzen, die sonst sehr unterschiedliche Interessen haben, zusammengeschweißt.
Sogar die Separatisten im französischsprachigen Québec seien „mit den anderen Kanadiern in der Verteidigung des Landes sehr einig“ – darin, dass man nicht 51. Bundesstaat der USA werden wolle, sagt der ehemalige Premier der Provinz Québec, Jean Charest.
tei, auf Basis der „Hintergrund“-Sendung von Doris Simon vom 24.4.2025