Ist das Land bereit für einen wie ihn? Einen, dessen Nachname die türkischen Wurzeln nicht verschleiert: Özdemir? Es ist eine mit Vorurteilen beladene Frage. Aber Cem Özdemir ist sie so wichtig, dass er sie am Samstagmittag im Heidenheimer Kongresszentrum offensiv an den Anfang seiner Rede stellt: „Einer mit Ö als Ministerpräsident? Akzeptieren das die Leute?“
Er weiß, dass es Menschen gibt, die daran grundsätzlich zweifeln. Und zwar nicht nur solche, die ein Problem mit jedem haben, der nicht Meier, Müller oder Schulze heißt. Selbst Grüne zweifeln, ob die Baden-Württemberger bei der Landtagswahl in gut neun Monaten Özdemir zu ihrem nächsten Ministerpräsidenten wählen. Özdemir nennt den ehemaligen grünen Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon nicht namentlich, aber die meisten in der Halle dürften dessen Auftritt im SWR im vergangenen Jahr noch im Kopf haben. Da dachte Salomon laut über die wahltaktischen Nachteile nach, die Özdemirs „türkische Wurzeln“ im konservativen Baden-Württemberg bedeuten könnten. Er würde sich „gerne täuschen“, sagte Salomon. Seitdem ist die Frage in der Welt.
Natürlich könnte Özdemir sie ignorieren, vor allem an diesem für ihn so bedeutsamen Tag. Will er aber offenkundig nicht: „Ich werde meinen Nachnamen nicht in Özdemeier ändern.“
Zweifel? In der Heidenheimer Halle praktisch nicht messbar
Wenn Özdemir die Wahl im kommenden März gewinnt, wäre er der erste Ministerpräsident mit Migrationshintergrund. Es wäre die Krönung seiner politischen Karriere, und an diesem Samstag kommt er diesem Ziel einen Schritt näher: Da hat ihn der grüne Landesparteitag offiziell zum Spitzenkandidaten gewählt, 97 Prozent Zustimmung, drei Nein-Stimmen, drei Enthaltungen. Zweifel? In der Heidenheimer Halle praktisch nicht messbar.
Für die Grünen wird die Landtagswahl 2026 ein besonderer Test. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren müssen sie ohne Winfried Kretschmann antreten, den ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands, sehr beliebt bei Land und Leuten, sehr gefürchtet bei der CDU, die nie ein Mittel fand gegen diesen Grünen, der seinen Konservatismus so lustvoll zelebriert. Doch im nächsten Jahr wird der 77-Jährige aufhören. Und die Grünen müssen beweisen, dass sie auch ohne ihre Überfigur die Vormachtstellung im Südwesten sichern können.
Die Ausgangslage für Özdemir könnte kaum schwieriger sein. Laut einer aktuellen Umfrage liegen die Grünen bei 20 Prozent, elf Prozentpunkte hinter der CDU, ihrem bisherigen Koalitionspartner. Özdemir muss aufholen, er muss den durch die Ampel-Regierung ramponierten Ruf der Grünen wiederherstelle, was schon deshalb schwierig werden dürfte, weil Özdemir selbst Bundesminister in dieser Ampel war – erst für Landwirtschaft, zuletzt auch für Bildung. Vor allem muss Özdemir jene Menschen überzeugen, die bisher Kretschmann gewählt haben, aber den Grünen ansonsten skeptisch gegenüberstehen.
Dafür, dass dieses Vorhaben nicht vollkommen unrealistisch ist, sprechen immerhin ein paar zarte Indizien: Gerade erst titelte die konservative Neue Zürcher Zeitung, die Grüne schon mal als „meschugge links“ bezeichnet: „Ministerpräsident Cem Özdemir? Es gäbe Schlimmeres“. Und in der SWR-Umfrage gaben 25 Prozent der CDU-Wähler an, dass sie bei einer Direktwahl nicht den jungen CDU-Kandidaten Manuel Hagel wählen würden, sondern Özdemir.
In Özdemirs Rede im Kongresszentrum fallen dann die Begriffe „Heimat“ und „Leitkultur“ in einer Frequenz, dass man sich kurz fragt, ob man aus Versehen beim CDU-Parteitag gelandet ist. Das Wort „Klima“ taucht im Manuskript nur ein einziges Mal auf. Es dauert gut vierzig Minuten, bis er den Nationalpark im Schwarzwald erwähnt. Gewiss, er preist Baden-Württemberg unter anderem als das „Pionierland der Agri-Photovoltaik“, aber wenn man diesen Auftritt als Maßstab nimmt, darf man die Vermutung wagen, dass Özdemir dem Umweltschutz in seiner Kampagne keine vordringliche Priorität einräumen wird.

:Der Kampf um das Erbe von Winfried Kretschmann
In gut neun Monaten wählen die Baden-Württemberger – es wird ein erster Stimmungstest für Kanzler Merz. Manuel Hagel von der CDU geht als Favorit ins Rennen, muss aber einen Spagat bestehen.
Özdemirs Zeit in Berlin dürfte seine Ambitionen in der Heimat eher nicht beflügeln
Das Erfolgsmodell von Winfried Kretschmann bestand in nicht unwesentlichen Teilen darin, sich immer wieder gezielt von der eigenen Partei abzusetzen. Beobachter sprechen von „ungrünen Elementen“, und solche fallen auch in Özdemirs Bewerbungsrede auf. Als er über die Krise in der Automobilindustrie spricht, sagt er zum Beispiel: „Grüne Transformationsprosa reicht da nicht aus.“ Also die Vorstellung, dass Bandarbeiter, die ihren Job verlieren, einfach zu KI-Experten umschulen. Unter den Arbeitern grassiere inzwischen „Transformationsfrust“. Und nein, eine einfache Antwort habe auch er nicht. Nur so viel: „Wenn wir Autoland bleiben wollen, müssen wir Batterieland werden.“ An der Stelle erlaubt er sich einen Hinweis in eigener Sache, nämlich dass er, Özdemir, als Bundesminister das Ende der Batterieförderung in Deutschland „gerade noch“ verhindert habe.
Abgesehen davon dürfte Özdemirs Zeit als Bundesminister seine Ambitionen in der Heimat eher nicht beflügeln. Die Grünen haben in der Ampel-Regierung erheblich an Ansehen eingebüßt. Im Bund sind sie in die Opposition gerutscht, eine Tatsache, die ihre Parteifreunde in Baden-Württemberg allerdings nicht übermäßig bedauern. In der Partei heißt es, dass es die eigenen Chancen nicht schmälern dürfte, wenn der Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) ähnlich unrund weiterregiert wie in seinen ersten Wochen.
Ansonsten speist sich die Hoffnung der Grünen vor allem aus der Erfahrung, dass sich Landtagswahlen am Ende häufig auf das direkte Duell der Kandidaten zuspitzen. Für Hagel spricht sein großer Vorsprung in den Umfragen, er gilt als exzellent vernetzt und geschickter Organisator, ist aber außerhalb des politischen Betriebs weitgehend unbekannt. Für eine Aufholjagd Özdemirs spricht seine Prominenz, seine Weltläufigkeit, seine Erfahrung. Andererseits war er eben lange Zeit weg aus Baden-Württemberg. Er hat kein großes Netzwerk, keinen Apparat.
Bei den Grünen geben sie sich trotzdem zuversichtlich, dass das am Ende reicht. Özdemir sei „durch und durch aus Ministerpräsidentenholz geschnitzt“, hat Winfried Kretschmann am Samstag gesagt. Die entscheidende Frage wird sein, ob das die bisherigen Kretschmann-Wähler auch so sehen.