Wer gewinnt den Großen Preis von Monaco? Vor einem Jahr wäre die Antwort den meisten Teamchefs der Formel 1 Stunden vor dem Rennen noch leicht über die Lippen gekommen: Wahrscheinlich der Mann auf der Pole-Position. Obwohl es in den vergangenen zwanzig Jahren „nur“ neunmal der Fall war.
Jeder will gerne mit Norris tauschen
Der Internationale Automobil-Verband (FIA) will das Szenario von 2024 unbedingt vermeiden. Damals führte ein Crash auf dem Weg hinauf zum Kasino zum Abbruch, weil die Wracks eines Red Bull und zweier Haas die Strecke blockierten. Rien ne va plus! Nichts ging mehr.
Zurück in der Boxengasse ließen alle die Pneus einmal – dem damaligen Reglement entsprechend – tauschen und absolvierten dann hinter dem führenden Charles Leclerc eine halbwegs gebremste Stadtrundfahrt über 76 Runden. Warum Gas geben, wenn das Überholen kaum möglich ist?
Aber nehmen zwei Stopps den Dramaturgen der großen Sause an der Côte d’Azur die Sorge vor einer langwierigen Prozession? Die Fahrer drückten sich in den vergangenen Tagen um eine präzise Prognose. Sie ließen im Verborgenen rechnen, in der Nacht zum Sonntag mit Blick auf die Resultate des Startplatzrennens und behielten das Ergebnis für sich.
Eines ist aber nach wie vor sicher: Jeder Pilot würde liebend gern mit Lando Norris tauschen und die Pole-Position des Engländers am besten mitsamt dem McLaren übernehmen. Er hat es nach seiner brillanten Tour am Samstag im Qualifying am ehesten in der Hand, nach 78 Runden von Fürst Albert II. beglückwünscht zu werden.
Ein Ferrari zwischen zwei McLaren
Deshalb schaute der um eine Nuance geschlagene Ferrari-Star Charles Leclerc zunächst etwas mürrisch auf eine „vertane Chance“. Auf den 200 Metern bis zur ersten Kurve wird er kaum an Norris vorbeikommen, sollte dem Briten beim Start nicht die Nerven flattern.
Also hinten „anstellen“ und Geduld haben? Das ist die Kunst, die auch Oscar Piastri auf die Probe stellt, dem Dritten vom Samstag. Allerdings beginnt angesichts dieser Konstellation an dieser Stelle der heikle Teil der Kalkulation. Ein Ferrari zwischen zwei McLaren: Das spricht für zwei Strategien im Haus des Konstrukteurs-Weltmeisters.

Vielleicht, je nach Rennverlauf, den Australier Piastri, in der Fahrerwertung führend vor Norris, mit einem „Undercut“ an Leclerc vorbei zu führen. Denn wer sollte schwerer zu überholen sein auf offener Strecke als der Sohn der Stadt? Zumal er im Ferrari bei der Simulation des Ausdauerlaufs am Freitag mit viel Benzin im Tank als Schnellster überzeugte.
Er könnte Norris wohl auf den Fersen bleiben und seinerseits mit einem „Undercut“ sein Glück suchen. Denn diese Taktik erhält in Monaco dank der Zweistopp-Vorgabe nun eine Chance. Norris würde als Führender nicht mit angezogener Handbremse kreisen, um hinter sich einen zähflüssigen Verkehr zu kreieren, der „Undercuts“ ausschließt, weil man sich anschließend hinter anderen einreihen muss im dichten Verkehr und nicht vorankommt. Norris würde versuchen, eine Lücke aufzureißen, um Platz zu schaffen, damit er nach einem Service-Aufenthalt vorne bleiben kann.
„Du kannst nichts planen“
An diesem Sonntag ist also mit einem höheren Renntempo zu rechnen. Eine Quelle für Fehler, für den Einsatz des Safety-Cars.
Ob Max Verstappen als Vierter nach der Rückversetzung von Lewis Hamilton (Ferrari) um drei Plätze wegen Blockierens im Qualifying (von Verstappen) davon profitieren wird? In der zweiten Startreihe schätzen Fahrer noch einen kontrollierten Verlauf. Aber im Qualifying blieb der Weltmeister gut 0,7 Sekunden über der Bestzeit von Norris. Und im Ausdauerlauf wirkte der Red Bull in Monaco nicht gerade raketenschnell. Der Stadtkurs mit langsamen Ecken ist nicht sein Pflaster.
Also doch ein Chaos als Wunschprogramm? Das wäre Fernando Alonso (Startplatz sechs) nicht recht: „Mit einem Stopp würde ich ankommen, wo ich losgefahren bin“, sagte der zweimalige Weltmeister und schielte auf einen Erfolg für Aston Martin: „Aber jetzt starten wir mal in einer guten Position und könnten wegen der zwei Stopps alles verlieren, was wir uns heute erarbeitet haben“, erklärte der zweimalige Weltmeister. Die aussichtsreichsten Verfolger der ersten beiden fühlen sich wie gefangen. „Du kannst nichts planen“, sagte der Sportchef von Red Bull, Helmut Marko. Wirklich nicht?
Einer kann das gut und halbwegs neutral beurteilen: Der Chef des Reifenlieferanten, Mario Isola: „Eine Strategie vorherzusagen, ist so gut wie unmöglich ist. In Monaco kommt ohnehin immer alles anders, da man immer mit einem Safety-Car rechnen muss.“
Strategieteams rücken ins Spiel
Das gilt für alle. Aber hinten im Feld wird anders gerechnet, dort, wo die Hoffnungslosigkeit der Lust zum Risiko weicht. Was kann Nico Hülkenberg als 13. im Sauber schon verlieren oder George Russell im Mercedes (14.), nachdem der Motor im Qualifying plötzlich keinen Mucks mehr machte?
Also nach der ersten Runde schnell zweimal an die Box kommen und dann durchfahren? Das könnte wegen des erhöhten Renntempos zu einem Problem mit dem Reifensatz führen. Vor allem aber verlöre der Kandidat viel Zeit, wenn die anderen eine Safety-Car-Phase oder gar einen Abbruch nutzten, um die Gummis zu tauschen.
In Monaco verliert immer mal einer die Konzentration und verstreut Einzelteile seines Rennwagens so ausgiebig über die Strecke, dass lange aufgeräumt werden muss. Die Wahrscheinlichkeit ist so hoch, dass viele auf sie setzen und „abwarten“ werden.
Deshalb rücken die Strategieteams als potentiell entscheidende „Steuermänner“ ins Spiel. Sie werden die Fahrer dirigieren, vielleicht auch mal einen zum Schutz des anderen als rasende Blockade. Sie werden blitzschnell die Lage erfassen und die beste Lösung präsentieren müssen.
Das war schon immer ihre Aufgabe? Zweifellos. Auf anderen Pisten, wo Zwei-Stopp-Rennen üblich sind und nicht befohlen werden müssen, ist der Stress vergleichbar? Nein, dort gibt es bessere Überholchancen. Die Siegquote von der Pole-Position wäre deutlich höher, wenn die Fehlerquote der Strategen in Monaco geringer wäre. Wenn sie unter Druck geraten, kann es spannend werden.