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Bei der Wahl in Portugal haben die Rechtspopulisten überraschend stark abgeschnitten. Für die siegreichen Konservativen von Premier Montenegro wird es jetzt umso schwieriger, eine stabile Regierung zu bilden.
Auf den Straßen Lissabons herrscht nach dem Wahltag wieder Alltag. Aber die lange Wahlnacht hat ihre Spuren hinterlassen, auch in den Köpfen der Passanten. Ein unerwartetes Kopf-an-Kopf-Rennen beschäftigt das Land.
„Es ist schrecklich – das Schlimmste, was passieren konnte“, sagt die 24-jährige Matilde Marques. Gemeint ist das Wahlergebnis von Portugals Rechtspopulisten. Keine Umfrage hatte vorhergesagt, dass die Partei Chega, zu Deutsch: „Es Reicht“, einen derartigen Siegeszug hinlegen würde.
Knapp 23 Prozent für einstigen Fußball-Kommentator
Das „Erdbeben“, wie es die Boulevardzeitung Correio da Manhã bezeichnet, macht die einen ratlos. Die anderen meinen, es musste genau so kommen. Emilia Gordo etwa findet, das Land brauche einen Wechsel. Und genau dafür tue Chega etwas.
Wahlbezirk für Wahlbezirk ist in der Nacht an die Partei von André Ventura gegangen, der sich als Fußball-Kommentator aus dem Benfica-Lissabon-Stadion einen Namen gemacht hat. Am Ende fährt die migrationskritische Partei beinahe 23 Prozent der Stimmen ein. So viele, dass sie nach Parlamentssitzen mit der Sozialistischen Partei gleichzieht, die vor etwas mehr als einem Jahr noch mit absoluter Mehrheit regiert hatte.
Kommt mit seiner rechtspopulistischen Partei auf Platz zwei: André Ventura.
„Gewisse Müdigkeit“ gegenüber etablierten Parteien
Soziologe Elisio Estanque von der Universität Coimbra forscht zu Rechtspopulismus und analysiert den Erfolg von Chega gegenüber tagesschau.de so: „Es gibt eine gewisse Müdigkeit gegenüber den beiden Parteien, die das Land in den vergangenen 50 Jahren abwechselnd regiert haben.“
Zudem sei Chega sehr geschickt darin, sich als Vorkämpfer gegen Korruption aufzuspielen. Bestechlichkeit sei ein sensibles Thema für die Bevölkerung, so Estanque weiter. Und genau dort böten die etablierten Parteien reichlich Angriffsfläche. Zum Beispiel auch, dass Ministerpräsident Luis Montenegro Informationen über sein Familienunternehmen verheimlicht habe. Das sei eine ungute Vermischung seiner persönlichen Interessen mit Amtsinteressen.
Der Wahlerfolg jenes Ministerpräsidenten Montenegro wird vom Durchmarsch der Rechtspopulisten überschattet, auch wenn der sich das nicht anmerken lässt. Der Spitzenkandidat des konservativen Bündnisses lässt sich spät in der Wahlnacht von jubelnden Parteimitgliedern als Wahlsieger feiern.
Sein Wahlbündnis gewinnt Sitze hinzu, verfehlt aber eine eigene Mehrheit: der konservative Premier Luis Montenegro.
Wieder keine eigene Mehrheit für die Konservativen
„Lasst Luis arbeiten“ – diesen Wahlkampf-Slogan wiederholt er selbstbewusst und wischt lässig hinweg, was eigentlich zu den vorgezogenen Neuwahlen geführt hatte: eine verlorene Vertrauensfrage im Parlament, die er selbst gestellt hatte. Und: der Interessenkonflikt mit seinem Familienunternehmen.
Sein Wahlbündnis „Demokratische Allianz“ gewinnt schließlich sogar neun Sitze hinzu. Was dieser Erfolg allerdings nicht verdecken kann: Es reicht wieder nicht für eine Mehrheit. Jedenfalls nicht, wenn Montenegro weiterhin zu seinem Wort steht: Dass er nicht mit der Rechtsaußenpartei Chega kooperieren will. Am Wahlabend vermeidet er es, sein kategorisches „Nein heißt Nein“ zu wiederholen.
Demütigung für Sozialisten
Für die traditionsreiche Sozialistische Partei ist das Wahlergebnis eine Demütigung. Sie hatte das Land bis 2024 acht Jahre lang regiert, nun ist sie womöglich nur noch dritte Wahl.
Parteichef Pedro Nuno Santos verkündet sichtlich erschüttert noch am späten Abend, dass er den Vorsitz abgeben werde. Allerdings nicht, ohne nochmal auszuteilen. Der Ministerpräsident sei nicht in der Lage, das Land gut zu regieren, so Santos.
Er würde seiner Partei nicht empfehlen, eine erneute Regierung von Montenegro zu unterstützen. Mit Blick auf die Rechtspopulisten warnt er: Sie seien deutlich aggressiver geworden und müssten hart bekämpft werden.
Chega setzt auf Anti-Migrationskurs
Nun rätseln viele, wie es nur sechs Jahre nach Gründung der Partei Chega zu diesem Überraschungserfolg kommen konnte. Parteichef Ventura, dessen Vorbild Donald Trump ist, hatte im Wahlkampf auf migrationskritische Themen gesetzt.
Nach Zahlen der staatlichen Migrationsagentur AIMA leben 1,6 Millionen Ausländerinnen und Ausländer in Portugal, das eine Bevölkerung von elf Millionen hat. Die meisten Neuankömmlinge kommen derzeit aus Asien. Sie wollte die Partei zum Beispiel für die Wohnungskrise verantwortlich machen.
Das sei ihr teilweise gelungen, so Soziologe Estanque: „Chega nutzt Vorurteile im Zusammenhang mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Migration für sich.“ Die Partei habe es sogar geschafft, dass traditionelle Medien diese Themen aufgegriffen und viele Menschen sie in sozialen Medien verbreitet hätten.
Eine andere Erklärung liefert Ventura am Wahlabend selbst. „Wir haben mit dem Zwei-Parteien-System aufgeräumt“, freut er sich unter begeisterten „Chega, Chega“-Rufen. Das kommt an bei denen, die von beiden großen Parteien genervt sind. Vor allem, weil diese offenbar keine befriedigenden Lösungen für drängende Probleme gefunden haben.
Aufschwung kommt nicht an
Trotz guter Wirtschaftsdaten kommt der Aufschwung bei vielen Menschen in Portugal nicht an: Gehälter sind vergleichsweise niedrig, Wohnraum für viele daher nahezu unerschwinglich, insbesondere in den Großstädten Porto und Lissabon. Hinzu kommt die tiefe Krise des öffentlichen Bildungs- und des Gesundheitswesens. Vor allem viele junge Menschen verlassen das Land. Portugal hat eine der höchsten Auswanderungsraten in Europa.
Und jetzt? Steht Portugal erneut vor einer komplizierten und womöglich länger dauernden Regierungsbildung. Experte Estanque verweist darauf, dass Wahlgewinner Montenegro vor der Wahl stets betont hatte, der „Cordon Sanitaire“, die portugiesische Brandmauer gegen Rechts, gelte. Und bleibt in der Wahlnacht doch vage.
Estanque kann sich vorstellen, dass die konservative Demokratische Allianz von Fall zu Fall mit den Sozialisten zusammenarbeitet – und dass die das auch mitmachen. Aber was, wenn nicht? An eines denkt in Portugal jedenfalls offenbar niemand: an eine große Koalition aus Konservativen und Sozialisten, seit eh und je ist das auf der iberischen Halbinsel ein „No Go“. Dann schon lieber eine weitere instabile Minderheitsregierung.