Wie versteckt man 25.000 Soldaten vor den Russen im Wald? Und wie schafft man es, zwei Dutzend Sprachen, verschiedenste Waffensysteme und unterschiedliche Funkkanäle unter einem Kommando zu koordinieren? Denn nur wenn das gelingt, kann die NATO die nötige Schlagkraft entwickeln, um einen breit angelegten Angriff auf das Bündnis zurückzuwerfen. Wenn man dieser Tage im östlichen Estland oder Litauen mit den schnellen Hubschraubern der deutschen Aviation Brigade über Wiesen und Wälder, Flüsse und Seen fliegt, sieht man fast nichts und niemanden. Ein paar Autos auf den Landstraßen; hier und da einen Angler oder jemanden, der im Garten zwischen blühenden Apfelbäumen Wäsche aufhängt.
Die NH-90 des Heeres, angetrieben von insgesamt 5000 PS Motorleistung, fliegen hier unter Gefechtsbedingungen zwischen den Bäumen, entlang der Flussläufe und in weniger als fünf Meter Höhe über Wiesen oder Seen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen, als ob sich ein ICE in voller Fahrt von den Gleisen in die Lüfte erhöbe und in eleganten Schwüngen dicht über Mecklenburg flöge. Eine aufregende Sache, das würde keiner der Heeresflieger bestreiten, die hier unter idealen Bedingungen trainieren können. Und wenn sie den Leuten quasi an der Kaffeetafel vorbeidonnern, werden sie meist mit lässigen Handzeichen gegrüßt, auch wenn die Kühe etwas nervös reagieren oder die Fische erst mal abtauchen.

Hier, rund vierzig bis fünfzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, ist jedes Hoheitszeichen der NATO herzlich willkommen, egal ob es läuft, fährt oder fliegt. Deswegen findet das NATO-Manöver „Griffin Lightning“ im Baltikum teilweise auf dem Land statt, in Gemeindeforsten und Dörfern und nicht auf eingefahrenen Truppenübungsplätzen. Übungen dieser Art waren im Kalten Krieg auch in Deutschland Alltag, ehe Bundeswehr und NATO aus der Öffentlichkeit quasi verschwanden.
Von den Tausenden Soldaten, die derzeit im Baltikum üben, ist allerdings wenig zu sehen. Die NATO passt ihre Einsatzbedingungen stetig an, aber der Ukrainekrieg hat alles vollkommen verändert. Die Allgegenwart von Drohnen zwingt dazu, ständig in Deckung zu sein, oder in rascher Bewegung. So wie die Hubschrauber der deutschen Aviation Brigade, die mit mehr als vierzig Maschinen, darunter auch etliche Tiger-Kampfhubschrauber, aus Standorten wie dem hessischen Fritzlar nach Litauen gekommen sind.
„Wir reden nicht über Fähigkeiten, wir haben sie“
„Wir reden nicht über Fähigkeiten, wir haben sie“, sagt der stolze Brigadegeneral Volker Bauersachs, der die Einheit führt, beziehungsweise er liest seinen Stolz vom Blatt ab. Seine neu gebildete NATO-Brigade umfasst derzeit alle Hubschrauber des Heeres und soll das multinationale NATO-Korps Nordost (MNC NO) unterstützen, das als erster Großverband des Bündnisses einem Gegner entgegenträte, bevor massive US-Verstärkung eintrifft. So der bisherige Plan. Auf einem Landeplatz bei Võru sind die Hubschrauber und etwa 800 Soldaten stationiert.
Die vier NH90, die etwa eine Stunde unterwegs waren, landen nun auf einem winzigen Segelflugplatz, bei laufenden Rotoren wird ausgestiegen, zwei Minuten später sind sie wieder in der Luft. Wenige Fahrminuten entfernt vom Landeplatz biegen die Fahrzeuge dann auf das Gelände einer verlassenen Kolchose ein. An den vergammelten Großscheunen halten Holz, Asbestplatten und Moos einander fest, eine Autowerkstatt hat sich angesiedelt.
Niemand darf einfach mal raus, nicht mal zum Rauchen
Aber wo sind die französischen Soldaten, die man hier treffen soll? Weit und breit niemand zu sehen. Es beginnt zu regnen, schnell in eine der Scheunen. Dann stehen plötzlich zwei Soldatinnen in der alten Scheune. Sie gehören zum 1. Regiment der Marineinfanterie aus Angoulême, nördlich von Bordeaux. Der Rest des Gefechtsstabes ist mitsamt Zelten, gepanzerten Fahrzeugen und Führungstechnik in der Nachbarscheune untergekommen. Kurz wird ein hölzernes Tor geöffnet, dann wieder geschlossen. Niemand von den etwa hundert hier versammelten NATO-Soldaten darf einfach mal raus, nicht mal zum Rauchen.

Die Truppe von Colonel Philippe ist Teil der Angreifer im Manöver und will ihre Sache natürlich gut machen. Manche der französischen Soldaten sind so jung, dass sie eben erst die Schule hinter sich haben dürften. Sie sind Angehörige einer Generation junger Europäer, für die der Krieg auf ihrem Kontinent wieder Realität geworden ist. Hier, 38 Kilometer von der Grenze zu Russland zu üben, das mache das deutlich, sagt einer von ihnen. Ähnliches bekommt man von der Panzersoldatin Siri aus Schweden, dem Schotten Louis oder dem Kanadier Paul zu hören – NATO-Soldaten, die hier in der Gegend ebenso wie zahlreiche estnische Reservisten üben.
Die 2. Estnische Brigade ist für das nationale Manöver „Hedgehog 2025“ vollständig aufgerufen worden. Insgesamt sind 16.000 estnische Soldaten, Reservisten und Heimatschützer entlang der Grenze des 1,3 Millionen-Landes mobilisiert. Manche wie Hanno aus Tallinn stecken mitten im Examen und gehen doch, ohne zu klagen, in eine zehntägige Übung. Sie wissen, warum, sagen sie. Denn während die NATO und die Bundeswehr weiterhin auf „Abschreckung“ setzen und die deutsche Litauen-Brigade sogar Familien mit nach Vilnius bringen will, sagen manche estnische oder litauische Soldaten für sie sei nicht die Frage, ob es zum Krieg mit Russland kommt, sondern wann. Im Baltikum insgesamt setzt man aber weiter auf Abschreckung.
„Stronger together“ lautet das Motto der NATO, stärker gemeinsam. Das klingt toll, aber die Praxis ist mühsam. Wie es gehen kann, diese Frage beantwortet in diesen Tagen unter anderem das übergreifende Manöver „Griffin Lightning“, bei dem NATO-Soldaten aus vierzehn Ländern in Estland, Litauen und Polen üben. Noch stellen die Amerikaner davon den größten Teil: Mehr als 12.000 Soldaten werden derzeit an die Ostgrenze verlegt, knapp die Hälfte wird zwischen Mai und Juni mitsamt Waffen und Fahrzeugen aus den Vereinigten Staaten eingeflogen und eingeschifft. Andere kommen von europäischen Standorten, wie etwa das 519. Feldhospital, das mit einer komplett mobilen Klinik über 1600 Kilometer von Kaiserslautern in ein Wäldchen bei Kaunas in Litauen verlegt wurde.

Während die Franzosen sich in Scheunen versteckt haben, sind die etwa 450 US-Soldaten in einer ehemaligen Raketenbasis der Roten Armee in Litauen bei der Ortschaft Vepriai untergekommen. Sie liegen nun in länglichen Bunkern, in denen im Kalten Krieg Sowjetfahrzeuge mit Mittelstreckenraketen untergebracht waren. Die Anlagen im Gemeindeforst waren lange fast vergessen und vermüllt. Nun sind hier plötzlich mobile Operationsräume und eine Zahnarztpraxis in Zelten eingerichtet. In einem Container befindet sich ein modernes MRT-Gerät. Sogar eine Apotheke, in der unter anderem ein deutscher Reservist mit eigener Apotheke in Dortmund arbeitet und seit Jahren den Kontakt zum 519. Feldhospital pflegt. Menschen wir er sind unverzichtbar, wenn die verschiedenen Welten innerhalb der NATO koordiniert werden sollen, und sei es bei Medikamenten.
Mehr als sechzig Schwerverletzte können die Ärzte und Pfleger hier versorgen, mitten in den Wäldern, geschützt von altem Sowjetstahlbeton. Das sei nötig, erläutert der Kommandeur Oberst Avery Carney. Denn die russische Kriegsführung sei auch gegenüber Sanitätskräften rücksichtslos. Transporte von Verwundeten, Fahrzeuge mit dem Zeichen des Roten Kreuzes würden gezielt, ja bevorzugt attackiert, sagt Carney. Oft lägen Verwundete an der russisch-ukrainischen Front sechs, acht Stunden ohne medizinische Versorgung, weil man nicht zu ihnen vordringen könne.
Die US-Sanitätskräfte experimentieren mit Drohnen
Um die lauernden russischen Drohnen auszumanövrieren, experimentieren die US-Sanitätskräfte in Litauen ebenfalls mit Drohnen. Die sollen aber nicht den Tod bringen, sondern lebensrettendes Blutplasma, das sie hier im Wäldchen ebenfalls in einem alten Sowjetbunker lagern. Erprobt wird in Estland auch die Luftrettung mit Quadrocopter-Drohnen einer Tiroler Firma, die bis zu 100 Kilogramm Traglast bewegen können. Doch die US-Streitkräfte sind nicht nur mit Sanitätern dort. Hunderte Fallschirmjäger der 173rd Airborne Brigade wurden etwa eingeflogen. Sie üben in Litauen, aber auch in Polen, wo zur gleichen Zeit nahe Olsztyn, dem ehemals ostpreußischen Allenstein, eine große polnische Divisionsübung mit multinationaler Beteiligung stattfindet. In Litauen sind vorige Woche deutsche und niederländische Luftlandetruppen mit Fallschirmjägern bei Rukla gelandet und sollen, so der Manöverauftrag, „mehrere vom Feind besetzte Objekte in der Nähe eines Flugplatzes freikämpfen“.
Die NATO demonstriert also ihre Bereitschaft, die Verteidigung zu stärken, aus dem Ukrainekrieg zu lernen. Inzwischen sind ukrainische Militärberater gefragte Gäste. Sie zeigen etwa den estnischen Soldaten, wie man Lauf- und Schützengräben so anlegt, dass sie die Verteidiger auch wirklich schützen. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Die Soldaten antworten im Rahmen ihrer sehr begrenzen Möglichkeiten, wenn es um die technische Anschlussfähigkeit, selbst den Austausch von Munition gleichen Kalibers geht.
Die Bundeswehr will im Bündnis europäische Führung übernehmen. So hat es Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) angekündigt, der an diesem Donnerstag dem feierlichen Aufstellungsappell der Panzerbrigade 45 in Litauen beiwohnt. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat unterdessen Wegmarken für das geplante neue NATO-Ziel bei den Verteidigungsausgaben skizziert. Am Rande eines EU-Treffens in Brüssel sagte er, der Anteil der Verteidigungsausgaben an der deutschen Wirtschaftsleistung solle in einem Zeitraum von fünf bis sieben Jahren um 0,2 Prozentpunkte pro Jahr steigen. So könnte bis 2032 eine NATO-Quote von 3,5 Prozent erreicht werden.
Bei manchen europäischen Streitkräften ist eine Zeitenwende allerdings noch nicht angekommen. Wer etwa den mitunter recht rostigen britischen Geländewagen im Baltikum begegnet, kann leise Zweifel am Zustand der British Army haben. Andererseits besitzen fast alle Angehörigen der britischen Brigade in ihren Schützengräben eigene Kleinstdrohen, die sie per Handy steuern können. Derweil schwebte über Berlin monatelang eine ministerielle Arbeitsgruppe „Task Force Drohnen“. Trotz solcher Verzögerungen zeigt sich die Bundeswehr an der NATO-Ostflanke als präsente Kraft mit Panzergrenadieren in Finnland, Fallschirmjägern in Litauen und nicht zuletzt mit der Hubschrauberbrigade. Vier ihrer Hubschrauber landen am dritten Tag der Manöverbegleitung auf einem kleinen Betonstreifen bei Kaunas und werden bei laufenden Rotoren aus nagelneuen, stark gepanzerten Bundeswehr-Tanklastern befüllt. Nach wenigen Minuten heben sie wieder ab. Geschwindigkeit und geringe Sichtbarkeit bedeuten Überleben.