Thüringens AfD-Chef Höcke präsentiert ein Gutachten, demzufolge die Partei in Thüringen für den Verfassungsschutz tabu sein müsste und Höcke selbst nicht hätte angeklagt werden dürfen. Ein Experte ist skeptisch, ob diese Auffassung vor Gerichten Bestand hätte.
Der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke will gleich zwei Fliegen mit einem Gutachten schlagen: erstens, Maßnahmen des Verfassungsschutzes zumindest gegen die Thüringer AfD zu verhindern, und zweitens, die Strafprozesse gegen ihn selbst zu stoppen. In dem Gutachten, das Höcke Mitte Mai vorstellte, geht es um den sogenannten Indemnitätsschutz von Abgeordneten.
Die Indemnität soll gewährleisten, dass Abgeordnete frei sprechen können, ohne dafür belangt zu werden. Im Grundgesetz heißt es dazu in Artikel 46: „Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen.“ Anders als die Immunität kann die Indemnität nicht aufgehoben werden, um eine Anklage gegen einen Abgeordneten zu ermöglichen.
Auch die Thüringer Landesverfassung hat eine solche Regelung, die allerdings weitergeht als das Grundgesetz. Dort werden nicht nur Äußerungen im Parlament erwähnt, sondern generell Äußerungen, die Abgeordnete „in Ausübung ihres Mandats“ tätigen. Wörtlich lautet Artikel 55, Absatz 1: „Abgeordnete dürfen zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die sie im Landtag, in einem seiner Ausschüsse oder sonst in Ausübung ihres Mandats getan haben, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Landtags zur Verantwortung gezogen werden.“ Auch hier gibt es die Einschränkung, dass die Regelung nicht für verleumderische Beleidigungen gilt.
Die AfD wäre fein raus
Die sächsische Landesverfassung enthält einen fast gleichlautenden Artikel, auch dort ist es Artikel 55. Deshalb brachte Höcke den sächsischen AfD-Chef Jörg Urban mit zur Vorstellung des Gutachtens. Das Papier kommt zu dem Schluss, Artikel 55 der Thüringer Landesverfassung verbiete „alle die Mandatsausübung beeinträchtigenden Maßnahmen“, darunter auch alle Maßnahmen des Verfassungsschutzes.
Die AfD wäre damit in Thüringen und Sachsen fein raus, zumindest ihre Abgeordneten. Weder die Landesämter noch das Bundesamt für Verfassungsschutz dürften sie beobachten. Nicht einmal Einschätzungen dürften die Behörden über Mandatsträger der Partei verbreiten. Sowohl in Thüringen als auch in Sachsen stufen die dortigen Landesämter für Verfassungsschutz die AfD als gesichert rechtsextremistisch ein.
In beiden Bundesländern scheint das der Partei nicht zu schaden. Im Landtag von Thüringen stellt sie die stärkste Fraktion, in Sachsen gleich hinter der CDU die zweitstärkste. Das jedoch sei „zu einfach gedacht“, sagte Urban bei der Pressekonferenz am 12. Mai. Die Zustimmungswerte könnten „deutlich größer sein, wenn es diese Stigmatisierung nicht gäbe“.
Bundesverfassungsgericht verwies 2017 auf die sächsische Landesverfassung
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Frage ist allerdings, ob die juristische Einschätzung der AfD plausibel ist. Diese Frage sei kompliziert, warnt der Strafrechtler und Indemnitäts-Experte Frank Zimmermann von der Universität Freiburg gleich zu Beginn eines Telefonats zu diesem Thema. „Wir werden abwarten müssen, was Gerichte dazu entscheiden. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass diese Argumentation erfolgreich sein wird.“
Zimmermann verweist vor allem auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren 2017 sowie auf ein weiteres Urteil zur NPD aus dem Jahr 2024. Zwar scheiterte das Verbot der Partei, die sich heute „Die Heimat“ nennt: Das Gericht befand letztlich, die Partei sei zu bedeutungslos, um ein Verbot zu rechtfertigen. Aber in dem Urteil finden sich Hinweise auf die Indemnitätsregeln.
So urteilten die Richterinnen und Richter, der Grundsatz der Indemnität „schließt eine Zurechnung parlamentarischer Äußerungen nicht aus“. In dem Urteil heißt es, auch unter Verweis auf Artikel 55 der sächsischen Landesverfassung: „Parlamentarische Äußerungen können einer Partei im Verbotsverfahren zugerechnet werden.“ Das gilt für die Einstufung einer Partei durch die Verfassungsschutzbehörden sowie in einem etwaigen Verbotsverfahren.
Die Indemnität gilt nicht absolut
2024 bekräftigte Karlsruhe diese Rechtsauffassung. Dieses Mal ging es nicht um ein Verbot der NPD, sondern darum, sie von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Dieser Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung war erfolgreich. Auch in diesem Urteil heißt es, parlamentarische Äußerungen könnten einer Partei „im Verbots- und Finanzierungsausschlussverfahren zugerechnet werden“.
Für Laien mag es seltsam klingen, dass Artikel 55 der Landesverfassungen von Thüringen und Sachsen gar nicht so kategorisch zu verstehen ist, wie es auf den ersten Blick wirken könnte. Frank Zimmermann erklärt, dass die Regeln der Indemnität nicht über anderen Verfassungsnormen stehen. Wenn die Verfassung also den Abgeordneten Indemnität zusichert, an anderer Stelle aber sagt, dass es möglich ist, eine Partei zu verbieten oder von der Parteienfinanzierung auszuschließen oder generell die freiheitlich-demokratische Grundordnung mit dem Verfassungsschutz zu schützen, „dann muss man die jeweiligen Verfassungsnormen in Ausgleich bringen“. Würde die Indemnität absolut gelten, würden anderen Verfassungsnormen Gefahr laufen, ausgehöhlt zu werden. Hier eine Balance zu finden, ist Aufgabe der Gerichte.
Und Höckes Forderung nach Straflosigkeit?
Weniger eindeutig ist die Sachlage aus Zimmermanns Sicht für Höckes zweites Ziel: die Strafprozesse gegen ihn selbst zu stoppen. Für Höcke ging es dabei vor allem um zwei Urteile des Landgerichts Halle. Das Gericht hat ihn im Mai und im Juli 2024 wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen schuldig gesprochen – Höcke hatte eine Parole der nationalsozialistischen SA, „Alles für Deutschland“, verwendet, aus Sicht des Gerichts ein Verstoß gegen Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs.
Mit Blick auf diese Urteile sagte Höcke unter Verweis auf das Gutachten: „Sämtliche Verfahren gegen mich sind einzustellen, denn der Indemnitätsschutz gilt für jeden Abgeordneten zu jeder Zeit.“ Während Zimmermann es für sehr wahrscheinlich hält, dass Klagen gegen Maßnahmen des Verfassungsschutzes gegen die Thüringer AfD erfolglos wären, ist er mit Blick auf die strafrechtlichen Prozesse gegen Höcke „eher skeptisch“: Hier hält er einen juristischen Erfolg der AfD zwar nicht für wahrscheinlich, aber für theoretisch denkbar.
Er räumt ein, dass man die Indemnitätsartikel der Landesverfassungen von Thüringen und Sachsen so verstehen kann, dass darunter auch Äußerungen auf Parteitagen, auf Wahlkampfveranstaltungen oder in sozialen Medien fallen – so argumentiert das Gutachten. Unumstritten sei diese Sicht aber nicht. Zimmermann hält es eher für möglich, dass Gerichte die Auffassung vertreten, dass Äußerungen von Abgeordneten außerhalb des Parlaments nicht zwangsläufig „in Ausübung des Mandats“ erfolgen.
Mordaufrufe im Parlament bleiben „theoretisch“ straflos
Zimmermann weist darauf hin, dass die Sphären in der Praxis schwer zu trennen sind. „Wenn ein Abgeordneter beim Schützenfest auftritt, dann kann man theoretisch einen Bezug zur Abgeordnetentätigkeit herstellen. Aber die Frage ist, ob es sinnvoll ist, die Indemnitätsregeln so weit auszulegen.“ Dies sei allerdings eine Debatte, die kaum geführt werde. „Im Strafrecht hat diese Diskussion der Indemnität bisher eher ein Schattendasein geführt.“
Klar ist allerdings, dass die Indemnität für Äußerungen, die wirklich im Parlament getätigt werden, sehr weitgehend ist. Ein Abgeordneter könnte im Thüringer Landesparlament oder im Bundestag objektiv strafbare Äußerungen tätigen und dürfte dafür nicht angeklagt werden – sofern es nicht um verleumderische Beleidigungen geht, im Juristendeutsch also um unwahre Tatsachenbehauptungen, die einen anderen verächtlich machen.
Abgesehen davon kann ein Abgeordneter im Parlament alles sagen, ohne belangt zu werden. „Das könnte nach dem Wortlaut der Vorschriften bis hin zu volksverhetzenden Äußerungen gehen, theoretisch sogar bis hin zu Mordaufrufen“, sagt Zimmermann. „Für die Äußerung als solche könnte er nicht belangt werden. Allerdings ist diese Frage bislang noch nie in der Praxis relevant geworden.“
Der Freibrief steht auf wackligen Füßen
Kurzum: Das Gutachten steht auf wackligen Füßen und ist wohl vor allem eine Show für Anhänger und Mitglieder: Seht her, nicht wir verstoßen gegen die Verfassung, der Staat und die Gerichte tun dies! Überraschend sind die Ergebnisse des Gutachtens indessen nicht. Der Verfasser, der Staatsrechtler Michael Elicker, hat die AfD nicht nur bereits mehrfach juristisch vertreten, er ist auch AfD-Mitglied. Im Saarland gehörte Elicker einer Kammer des Landesschiedsgerichts der AfD an, die später vom Bundesschiedsgericht der Partei für nichtig erklärt wurde, wie die „Rheinpfalz“ im vergangenen Jahr berichtete.
Höcke sagte bei der Vorstellung des Gutachtens, nun müsse geprüft werden, „inwiefern“ (nicht ob) sich die Staatsanwälte und Richter in den Verfahren gegen ihn strafbar gemacht hätten. Diese Drohung hält Zimmermann für „erwartbar“. Das sei „das übliche Klappern, das dort zum Handwerk gehört“. Tatsächlich stieß Höcke Drohungen dieser Art nicht zum ersten Mal aus. Man könne den Angestellten des Verfassungsschutzes „nur dringend raten, sich eine neue Arbeit zu suchen“, schrieb er auf X, nachdem das Bundesamt die AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft hatte. „Am Ende wird es wie immer in der Geschichte heißen: Mitgehangen – mitgefangen.“
Als Drohung will Höcke diese später gelöschte Äußerung nicht verstanden wissen, wie er bei der Pressekonferenz am 12. Mai sagte. Schon damals blieb offen, was er mit dem Gutachten bezwecken will: Die Bundespartei war bei der Vorstellung nicht vertreten, Höcke sagte lediglich, er gehe davon aus, „dass das Gutachten im Rechtskampf auf Bundesebene Verwendung finden wird“. Wird es das? Unklar. Ein Parteisprecher sagt auf Nachfrage, er könne dazu zurzeit keine Auskünfte erteilen.