Zweimalige Weltmeisterin, Olympiadritte, Deutschlands Fahnenträgerin in Paris – Judoka Anna-Maria Wagner hat viel erreicht. Auch wenn der große Traum in Tränen endete. Bevor sie demnächst ihre Karriere beendet, betrachtet sie mit WELT Bildzeugnisse besonderer Momente und blickt zurück.
Es ist ein Moment purer Glückseligkeit. Anna-Maria Wagner sitzt auf einer Stufe neben dem Podest der Mubadala Arena von Abu Dhabi. Sie gibt gerade ein Interview, lauscht gedankenversunken den Worten des Fragenstellers. Ihre Hände, in sich zusammengefaltet, stützen ihr Kinn. Sie lächelt. Die Goldmedaille baumelt ihr um den Hals, spiegelt sich in ihrem Judogi. „Das ist so ein toller Schnappschuss“, sagt Wagner im WELT-Gespräch mit Blick auf das Foto. „Ich kann mich sehr gut erinnern. Ich war in dem Moment einfach zufrieden, glücklich und dankbar. Dieses Foto ist der perfekte Beweis.“
Es ist der 22. Mai 2024. Wagner ist gerade zum zweiten Mal in ihrer Karriere Judo-Weltmeisterin in der Gewichtsklasse bis 78 Kilogramm geworden. „Das war an diesem Tag aber nur zweitrangig“, erzählt die heute 28-Jährige. Viel wichtiger für sie: „Ich habe mir mein Ticket für Paris erkämpft. Das war der härteste Kampf.“ Denn bei den Olympischen Spielen darf im Judo nur eine Athletin pro Nation starten. Bei den Damen hat der deutsche Verband im Halbschwergewicht ein Luxusproblem. Neben Wagner gehören auch Alina Böhm, Europameisterin von 2022 und 2023, sowie Anna Monta Olek zur absoluten Weltspitze. Die drei Frauen rangieren am Ende der Qualifikationsphase unter den besten Elf. Wagner sammelt mit ihrem WM-Titel die entscheidenden Punkte und hat endlich Gewissheit: Sie fährt nach Paris, kann dort um Gold kämpfen.
Während dieses für Wagner so besonderen Augenblicks ist Lorraine Hoffmann an ihrer Seite. Die Fotografin begleitete die Ausnahme-Judoka seit dem Sommer 2022 bis zu den Frankreich-Spielen im vergangenen Jahr. Aus dieser Zeit ist jetzt ein Bildband erschienen, eine Art visuelles Tagebuch. In WELT blickt Wagner nun auf die emotionalsten und wichtigsten Fotos aus „Am Ende zahlt sich alles aus“.
Ein besonderer Gruß, eine besondere Erinnerung
Eines der Fotos zeigt Wagner auf der Matte vor einem Kampf, die rechte Hand am Mund, den Blick gen Himmel gerichtet. „Das ist ein Gruß an meine Oma, den ich vor jedem Kampf mache. Ich hatte ein tolles Verhältnis zu ihr, aber sie ist leider relativ früh gestorben“, erzählt sie. „Als es zu Ende ging, hat sie meinem Vater damals gesagt, dass er auf mich aufpassen soll und ich etwas ganz Besonderes bin. Wenn ich auf die Matte gehe, ist sie in meinen Gedanken immer dabei. Das spüre ich. In diesen Momenten habe ich eine Stimme im Kopf, die sagt, dass wir das zusammen schaffen.“
Das Buch soll eine Inspiration sein für den Nachwuchs, einen Blick hinter die Kulisse für Menschen außerhalb vom Judo bieten und vor allem eines sein: eine Erinnerung für sie selbst. Denn Anna-Maria Wagner wird ihre Karriere im Herbst dieses Jahres beenden. Eine Entscheidung, die sie vor wenigen Wochen der Öffentlichkeit mitgeteilt hat, die aber schon länger feststeht.
„Es war ein schleichender Prozess“, erzählt Wagner und erklärt: „Mit dem Jahreswechsel hat es angefangen. Da bin ich ins Training zurückgekehrt. Ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr so brenne für den Sport und mir diese letzten Prozente Bereitschaft fehlen, die aber so wichtig sind, um an der Spitze mitzuhalten. Ich habe in den letzten Jahren immer 150 Prozent gegeben in allen Bereichen. Im Training, bei der Ernährung, meiner mentalen Gesundheit und, und, und. Mit dieser Einstellung konnte ich mich nicht mehr identifizieren. Als diese Gefühle immer stärker wurden, habe ich auf mein Bauchgefühl gehört und beschlossen, dass 2025 mein letztes Judo-Jahr sein soll.“
Der Schrei, der immer lauter wurde
Bis ihre Karriere endgültig vorbei sein wird, dürfte noch einige Male ein lauter Schrei durch jene Sporthallen tönen, in denen Wagner um Siege kämpfen wird. „Das ist ein weiteres Ritual von mir. Diese Schreie vor den Kämpfen sind im Laufe meiner Karriere immer lauter geworden“, sagt sie und erklärt: „Für mich ist es vor einem Kampf arg wichtig, dass ich mental in den Fokus komme, mich auf eine andere Ebene versetze. Das Schreien hilft mir dabei, setzt Energie frei. Ich bin in diesem Moment schon ganz woanders.“ Wenn sie Fotos oder Videos davon sieht, muss sie manchmal selbst lachen. „Ich nehme diesen Moment gar nicht so wahr, weil ich im absoluten Tunnel bin.“
Wagner wird die Judo-Matte im Herbst als zweimalige Weltmeisterin (2022, 2024) und olympische Bronzemedaillengewinnerin (Tokio 2021) verlassen. Sie gehört damit zu den erfolgreichsten deutschen Judoka überhaupt. Nur der ganz große Traum von Olympia-Gold in Paris platzte. Dort schied sie im Halbfinale gegen die Israelin Inbar Lanir aus und unterlag auch der Chinesin Zhenzhao Ma im anschließenden Kampf um Bronze.
Der Griff ans Knie, der Böses erahnen ließ
Es gibt ein Foto aus dem Viertelfinale, das den Beginn des Dramas zeigt: Wagner greift sich ans rechte Knie. „Den Kampf habe ich gewonnen, mich währenddessen aber verletzt. Ein ekliger Moment“, erinnert sie sich. „Ich habe sofort gespürt, dass ich mich verletzt habe. Ich habe das Knacken im Knie gehört. Mein ganzer Körper ist eingesackt. Wir haben mit den Ärzten und Physiotherapeuten einige Tests gemacht. Da war klar, dass mein Innenband etwas abbekommen hat. Wir konnten aber nicht viel machen.“ Am Nachmittag war das Halbfinale, bis dahin hatte sie nur vier Stunden Zeit. Beim MRT am nächsten Morgen wurde dann klar, dass das Innenband fast gerissen war.
Mit dem Ergebnis hat Wagner mittlerweile ihren „Frieden geschlossen“ und fasst zusammen: „Olympische Spiele sind hart. Sie sind nur alle vier Jahre. Mein Wettkampf steigt an nur einem einzigen verdammten Tag. Entweder dieser Tag gehört mir oder er ist gegen mich. Ich kann mir nichts vorwerfen, habe alles auf der Matte gelassen. Ich kann die Spiele von Paris mittlerweile als ein schönes Erlebnis einordnen.“
Der Abgang. Danach kamen die Tränen
Vor Ort hatten erst mal Frust, Traurigkeit und Enttäuschung überwogen. „Als ich nach dem verlorenen Kampf um Bronze von der Matte ging, war ich noch gefasst, aber natürlich auch schockiert. Als ich mich dann auf den langen Weg Richtung Aufwärmhalle gemacht habe, kamen mir schon die Tränen. Das war ein schlimmer Moment, weil mir klar wurde, dass ich mit leeren Händen nach Hause gehe“, erzählt sie. „Kurz vor dem Bereich, wo die Medien gewartet haben, bin ich dann Anna-Lena Baerbock in die Arme gelaufen. Sie war in der Halle, hat mich in den Arm genommen. Das war total nett, auch süß. Ich habe ihr Mitgefühl gespürt. Danach kamen die Interviews, da habe ich geheult wie ein Schlosshund.“
Auch ohne Medaille war die Zeit für Wagner, die bei den Frankreich-Spielen gemeinsam mit Basketballer Dennis Schröder die deutsche Fahne getragen hatte, „deutlich besser als die Phase nach Tokio“. Nachdem sie dort Bronze gewonnen hatte, fiel die gebürtige Ravensburgerin in ein mentales Loch, hatte eine sogenannte Post-Olympia-Depression. „Ich war völlig antriebslos, apathisch, wollte nichts mehr unternehmen und hatte an nichts mehr Spaß“, hat Wagner mal in einem früheren Interview erzählt. Sie musste oft weinen, meist ohne Grund.
„Natürlich hat mich die Enttäuschung und Traurigkeit über das sportliche Ergebnis noch einige Wochen nach Paris begleitet“, berichtet Wagner. „Da kamen dann Gedanken an die verlorenen Kämpfe in meinen Kopf. Aber ich habe mir schon vor Paris schöne Erlebnisse für die Zeit danach gesucht. Urlaub, Zeit mit Familie und Freunden verbringen, einfach schöne Dinge machen. Deshalb bin ich nicht erneut in dieses Loch gefallen. Ich habe einen Partner an meiner Seite, der mir in dieser Phase unglaublich gutgetan hat, der mein Fels war.“
Wenn ihre Karriere mit dem Finale der Judo-Bundesliga im Oktober endet, freut sich Wagner erst mal auf das „normale Leben“. Ihrem Körper gehe es erstaunlich gut, sie habe nie mit größeren Verletzungen zu kämpfen gehabt. Ihre Zukunft sieht sie in der Hotellerie. „Bei uns in der Familie gibt es ein Hotel, ich bin aufgrund meiner Großeltern damit groß geworden. Da habe ich früher alles gemacht. Von Zimmer putzen über die Arbeit in der Küche bis zum Service“, sagt Wagner mit einem Lächeln.