Beim Blick in den Rückspiegel sah Max Verstappen keine Gefahr. Beinahe 20 Sekunden Vorsprung hatte er auf seinen ersten Verfolger rausgefahren, 47 von 63 Runden waren durch, das hätte eine entspannte Sonntagsfahrt werden können. Aber dann meldete Kimi Antonelli Probleme, rollte mit seinem Mercedes auf einen der Grasstreifen, und auf einmal war es vorbei mit dem Spaziergang für Verstappen beim Großen Preis der Emilia-Romagna. Hinter dem Safety Car bei verringerter Geschwindigkeit schmolz sein Vorteil dahin. Nun hatte er wieder Oscar Piastri am Heck seines Red Bulls kleben, der alles daran setzen würde, sich jenen Platz zurückzuholen, den er in der ersten Runde an Verstappen verloren hatte.
Vielleicht schweifte der McLaren-Pilot bei diesem Gedanken kurz ab, Piastri verpasste jedenfalls den entscheidenden Moment, als das Safety Car in der 53. Runde die Strecke wieder verließ. Und weil Verstappen den Vorteil hatte, auf erst sieben Runden alten Reifen unterwegs zu sein, während die Pneus von Piastri nach 23 Durchgängen schon ordentlich Gummi verloren hatten, brachte er schnell wieder vier, fünf, sechs Sekunden Abstand rein. Bald darauf zog an Piastri auch noch dessen Teamkollege Lando Norris vorbei. An Verstappen aber kam keiner mehr ran.

:Von der Langstrecke in die erste Reihe
Max Verstappen setzt zwischen zwei Rennen mal eben eine Bestmarke auf der Nordschleife am Nürburgring – und startet den Grand Prix in Imola von Platz zwei. Ein Erfolg hier wäre Beruhigungsmittel und Geschenk zugleich für Red Bull.
Der Weltmeister holte sich auf dem Autodromo Enzo e Dino Ferrari seinen zweiten Saisonsieg, der seinen vierten Gewinn in Imola nacheinander und den 65. Triumph seiner Formel-1-Karriere markiert. Ein Erfolg passend zum 400. Grand-Prix-Start von Red Bull. „Das war fantastisch von uns“, funkte Verstappen, der damit die Serie von Piastri beendet hat, der in den vergangenen drei Rennen nicht zu schlagen war. Verstappen meldet sich zurück im Titelkampf. In der Gesamtwertung ist er Dritter mit 124 Punkten und verkürzt seinen Abstand auf Norris (133) und Piastri (146). „Ich bin enttäuscht, wir haben viele falsche Entscheidungen getroffen“, sagte Piastri.
Verstappen nutzte an diesem Tag effizient und clever die erste Chance, die sich ihm bot. Unmittelbar beim Start hatte noch Piastri die bessere Reaktion gezeigt, er war auf den ersten Metern vorn geblieben, dicht an ihm dran der Red Bull und George Russell im Mercedes. Verstappen war im Verzug, aber nur vermeintlich, denn dann kam die erste Kurve. Der Niederländer nahm sie von außen und hatte dann beim nächsten Schlenker innenliegend die bessere Position. Zack! Vorbei und davon! Verstappen konnte seinen Vorsprung zügig auf 1,5 Sekunden ausbauen. Das bestätigte seinen Trend dieses Wochenende. Im Training hatte er Schwierigkeiten, in der Qualifikation verlor er die Pole Position für das siebte Saisonrennen nur um 0,034 Sekunden an Piastri. Norris startete als Vierter, die Zuversicht bei McLaren trübte das nicht – hatte doch jüngst Piastri in Miami bewiesen, dass man auch von diesem Startplatz als Erster ins Ziel kommen kann.
Für Norris geht es darum, bei McLaren nicht eindeutig zur Nummer zwei zu werden
Allein, die Strecke in Florida hat eine andere Charakteristik als jene in der Emilia-Romagna, auf der das Überholen als schwierig gilt. In der Regel gibt es hier nicht ein Manöver nach dem anderen zu sehen. Am Sonntag aber folgte die Ausnahme der Regel, bald nach dem Schachzug von Verstappen gab es den nächsten unterhaltsamen Platzwechsel. Norris hatte schon zuvor versucht, an Russell vorbeizukommen, bis es ihm im elften Durchgang gelang. Für den Engländer geht es darum, nicht eindeutig zur Nummer zwei im derzeit stärksten Rennstall zu werden. Dass dieser Grand Prix ganz in seinem Sinn enden sollte, konnte Norris da noch nicht ahnen, auch wenn er kurz nach seinem Manöver auch noch von Piastris Boxenstopp in der 14. Runde profitierte.
Nun war Norris der erste Verfolger, allerdings mit mehr als neun Sekunden Rückstand auf Verstappen, der nach den Schwierigkeiten in den ersten Rennen – seinen Sieg in Japan ausgenommen – genießen konnte, dass es so gut lief. Mit frischen Reifen musste Piastri sich von Platz elf nach vorne zurück arbeiten, Russell war ebenfalls weit zurückgefallen. Die große Variable war nun, wann die anderen an die Box abbiegen und wo sie sich danach wieder einreihen würden.

Nachdem Norris sich in der 29. Runde einen neuen Satz Reifen geholt hatte und durch die Boxengasse tuckerte, rauschte wiederum Piastri an ihm vorbei, nun war er Dritter hinter Alexander Albon im Williams und Verstappen. Hätte Norris geahnt, dass kurz danach Esteban Ocon seinen Haas im Gras parken musste, weil es Probleme mit dem Auto gab, hätte er mit dem Stopp gewartet. Denn bis das Auto entfernt worden war, galt die virtuelle Safety-Car-Phase, ideal, um unter der reduzierten Geschwindigkeit des gesamten Feldes weniger Zeit beim Reifenwechsel zu verlieren. Natürlich nutzten Verstappen und Piastri diesen Vorteil ebenso wie 13 andere Fahrer. Verstappen lenkte danach seinen Wagen 19 Sekunden vor Norris, da waren 33 von 63 Runden gefahren.
Für Ferrari ist das Rennen in Imola eine Achterbahnfahrt – mit versöhnlichem Abschluss
„Das ist unglaublich!“, knarzte es derweil durch den Boxenfunk. Es war kein Ausruf der Freude, sondern der Verzweiflung. Jenes Team, für das der Grand Prix in Imola zu den wichtigsten des Jahres zählt und das vom Publikum hier innig geliebt wird, erlebte eine Achterbahnfahrt. Ferrari war in der Qualifikation abgeschlagen in der sechsten Startreihe gelandet, Charles Leclerc als Elfter, dahinter Lewis Hamilton. „Mir fehlen die Worte zu unserer heutigen Leistung“, hatte Leclerc gesagt, am Sonntag dann entfuhr ihm das nächste Wehklagen. Aber es gab noch eine Art Happy End, beide Ferrari konnten sich nach vorn arbeiten. Das Rennen beendete Hamilton als Vierter, sein bestes Ergebnis für die Scuderia, Leclerc wurde Sechster.
Auch Piastri konnte noch Ergebniskosmetik betreiben. In der 40. Runde überholte er Albon und lag wieder auf Podiumskurs. Und dann, zum zweiten Mal: Safety Car, diesmal das richtige, nach dem vorzeitigen Rennende für Antonelli. Wieder eine gute Gelegenheit für einen Reifenwechsel, Norris zog diesen Joker, verlor dadurch jedoch eine Position an Piastri, der nun als Zweiter wieder beste Karten hatte, um sich seinen ursprünglichen Platz von Verstappen zurückzuholen. Doch dann kam Norris überraschend wieder am Australier vorbei und Verstappen bewies, dass mit dem Weltmeister immer zu rechnen ist.