Das klingt gewöhnungsbedürftig. 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus schallt es deutsch über den Kathedralenplatz in Vilnius: „Das Gewehr über!“ Es sind Töne einer neuen Zeit. Tausende Litauer säumen den Platz, wedeln mit schwarz-rot-goldenen Fähnchen, um die Soldaten zu begrüßen. Der litauische Staatspräsident Gitanas Nausėda wendet sich auf Deutsch „mit offenem Herzen“ an die „lieben deutschen Soldatinnen und Soldaten“, die hier nun dauerhaft stationiert werden, um die Nato-Ostflanke gegen Russland zu schützen. Als er beginnt zu reden, setzt prasselnder Regen ein, aber die Menschen bleiben fast alle auf dem Kathedralenplatz.
Am Rand sind deutsche Panzer aufgebaut, die Abschreckung soll Richtung Moskau zielen und wird auch mit einer Waffenschau demonstriert. Kampfhubschrauber donnern über die Altstadt, begleitet von Applaus unten auf dem Platz. Kanzler Friedrich Merz (CDU) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sind gemeinsam angereist, sie sprechen von einem historischen Tag.
Der Hauptstandort liegt 30 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt
Es ist der Aufstellungsappell der Brigade Litauen; dieses lange von Kritikern für unrealistisch gehaltene Projekt erreicht damit die nächste Stufe. Es ist die erste dauerhafte Stationierung einer Brigade im Ausland seit Bestehen der Bundeswehr, Kommandeur ist der Brigadegeneral Christoph Huber. Die Menschen hier, von denen viele noch unter sowjetischer Besatzung gelitten haben, wirken ehrlich dankbar. Die Nationalhymnen erklingen, „Des großen Kurfürsten Reitermarsch“ wird gespielt und dann die Truppenfahne an Brigadekommandeur Huber übergeben.
Merz spart in seiner Rede nicht an Pathos: „Wir verteidigen hier die europäische Freiheit gegen jeden Aggressor.“ Von diesem Platz aus habe 1989 die Unabhängigkeitsbewegung Litauens ihren Ursprung genommen. Von diesem Platz aus, der so viele Geschichten des Widerstands zu erzählen habe, nehme man die Verteidigung der Nato-Ostflanke nun in die eigenen, gemeinsamen Hände. Merz bekommt großen Applaus für die Rede, weckt aber auch große Erwartungen. Gilt dieses Versprechen wirklich auch im Ernstfall?

Auch Pistorius hält eine Rede, spricht auf Englisch von einem „Lighthouse Project“. Er erinnert stets daran, dass Deutschland im Kalten Krieg selbst an der Ostflanke der Nato gelegen habe und sich auf die Rückendeckung der Partner verlassen konnte. Hier in Litauen übernehme Deutschland nun auch mehr Verantwortung in der Nato, für ihn auch ein Signal Richtung Washington. Bis 2027 soll die Brigade voll einsatzfähig sein. Der 17 000 Hektar große Hauptstandort entsteht in Rūdninkai – 30 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt. Die Litauer bauen im Eiltempo Kasernen und militärische Einrichtungen, die Panzerringstraßen sind bereits weitgehend fertig.
In Litauen überwacht die Bundeswehr bereits rund 70 Kanäle in sozialen Netzwerken, in denen russische Desinformation eingespeist wird, um einen Keil zwischen die Bevölkerung und die Bundeswehr zu treiben. So wird von angeblichen Vergewaltigungen von deutschen Soldaten berichtet oder mit dem Begriff „Transgender-Brigade“ die Kampffähigkeit des Bundeswehrverbands infrage gestellt.
Pistorius hatte den Aufbau der Brigade überraschend im Juni 2023 verkündet. Aus Deutschland werden dafür Dutzende Kampf- und Schützenpanzer verlegt. Bis Ende des Jahres sollen 500, bis Ende 2026 etwa 2000 Bundeswehrsoldaten da sein, 2027 werden es 5000 sein. Pistorius betont, bisher gebe es genug Freiwillige in der Bundeswehr, die sich für diesen Auslandseinsatz interessierten. Die Kosten der Infrastruktur übernimmt Litauen; für die mitreisenden Familien müssen Wohnungen, Schul- und Kita-Plätze organisiert werden. Schätzungen gingen zuletzt von Gesamtkosten im hohen einstelligen Milliardenbereich aus.
Der Vorlauf der Reise geriet etwas kurios, die Bundesregierung scheint noch in ihrer Sponti-Phase zu sein. Zunächst hatte der Verteidigungsminister seine Reise nach Vilnius angekündigt. Dann hieß es, der Kanzler wolle auch kommen. Damit wurde der Initiator dieses Projekts, Pistorius, in eine Nebenrolle degradiert und flog beim Kanzler mit. Beide haben aber einen guten Draht zueinander entwickelt, duzen sich – und Pistorius ist durch Besuche bei seinen Schwiegereltern inzwischen auch mit dem Sauerland ganz gut vertraut, der Heimat des Kanzlers. Jüngst wurde er in einem Lokal am Möhnesee gesichtet, das Merz ebenfalls gut kennt. Da auch noch viele Offiziere und das Stabsmusikkorps der Bundeswehr nach Litauen gebracht werden mussten, machten sich am Ende zwei Maschinen auf den Weg.
Ein beachtlicher Aufwand für so eine Zeremonie, aber es geht offenkundig auch um eine Botschaft Richtung Moskau. In seiner ersten Regierungserklärung hatte Merz verkündet, die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee Europas machen zu wollen. Wie das allerdings personell ohne zumindest eine teilweise Wehrpflicht klappen soll, diese Frage wird bisher umschifft. Merz sieht sich zudem in einer Traditionslinie mit Helmut Kohl und möchte gerade den kleineren osteuropäischen Staaten wieder mehr Gewicht geben – und nicht Politik über ihre Köpfe hinweg machen wie lange Zeit bei der auf Russland fixierten Energiepolitik.
Teil des Ganzen ist auch die Ausweitung der Rüstungskooperation. Litauen kauft 44 Leopard-2-Kampfpanzer in Deutschland, der Rüstungskonzern Rheinmetall wiederum baut in Litauen eine Fabrik zur Fertigung von Artilleriemunition. Merz glaubt, der „aggressive russische Revisionismus“ werde nicht in der Ukraine enden. Da die litauische Armee selbst nur über rund 18 000 Soldaten verfügt, soll mit den zusätzlichen 5000 Soldaten die Abschreckungsfähigkeit gegen Russland gestärkt werden. Aber die bange Frage ist auch an diesem Tag, ob sich US-Präsident Donald Trump beim Nato-Gipfel Ende Juni in Den Haag weiter langfristig zur Nato bekennen wird, vor allem auch dazu, zum Beispiel Litauen im Fall der Fälle gemäß der Beistandspflicht nach Nato-Artikel 5 wirklich beizustehen.
Im September planen die Russen wieder ein Großmanöver
In Vilnius geht es neben den eher düsteren Aussichten für die Ukraine eben auch um die Frage, was man denn mache, wenn die USA ihre Truppen aus dem Baltikum abziehen und die deutsche Brigade dann etwas sehr einsam dastünde. „Wir haben im Augenblick keinerlei Hinweise darauf, dass die Vereinigten Staaten von Amerika Truppen aus Europa abziehen“, betont Merz.
Er fügt hinzu: „Wir spielen, wenn immer möglich, im Team mit den USA.“ So oder so gelte es, das Bündnisgebiet „gegen jede“, und er wiederholt, „gegen jede Aggression zu verteidigen“. Der Test könnte schon kommen, bevor die Brigade richtig aufgestellt ist. Mit großer Sorge wird bei internen Lagebesprechungen ein von Russland und Belarus im September geplantes Manöver mit Tausenden Soldaten an der Grenze zu Litauen gesehen. Der Name: Zapad 2025 (Westen 2025)
Beim letzten Mal, im Herbst 2021, diente so ein Großmanöver mit entsprechenden Truppenverlegungen der Vorbereitung der Invasion in die Ukraine. Was, wenn es zu Provokationen, ein paar über die Nato-Ostgrenze fliegenden Drohnen kommt? Litauens Präsident Nausėda wirkt nicht gerade entspannt, als er darauf angesprochen wird. Das sei eine Bedrohung, schließlich gehe es hier auch um die Simulation eines Angriffs auf die baltischen Staaten. Daher wird eine Gegenübung organisiert. Es gebe immer die Gefahr ungewollter Eskalationen oder Zwischenfälle. Aber er setzt da auch auf die neue Präsenz aus Deutschland für alle Fälle: „Wir sind gut gewappnet.“